Kultur und Wissen
03.06.2025

Münchens verborgener Kapellenkosmos

Sie sind in der Münchner Innenstadt noch zahlreicher vorhanden als die rund 45 Kirchen, aber meist in größeren Gebäuden versteckt: die Kapellen. Wir haben sie fast alle ausfindig gemacht und besucht – und einige Erkenntnisse gewonnen, die über München hinausreichen.

Eine von vielen öffentlich nicht zugänglichen Kapellen in München: die Hauskapelle im Provinzialat der Salesianer Don Boscos. Eine von vielen öffentlich nicht zugänglichen Kapellen in München: die Hauskapelle im Provinzialat der Salesianer Don Boscos. Foto: © SMB/Burghardt

Bitte vervollständigen Sie diesen Satz: „Gottesdienste feiert man in einer K...“! – Sie haben an „Kirche“ gedacht, stimmt’s? Das wäre aber nur die halbe Wahrheit, genauso gut könnten Sie sagen: „Kapelle“. Denn diese kleinere, gern übersehene Form des Sakralbaus ist weiter verbreitet und vielfältiger, als man meint. Sehen wir uns einmal in der Münchner Innenstadt um!

Wo fängt man an, nach Kapellen zu suchen? Am besten dort, wo sie nicht zu übersehen sind und frei dastehen. Im ländlichen Raum beginnt bei dem Stichwort ja gleich das Kopfkino: weithin sichtbare Rokoko-Kapellen vor der Alpenkulisse, verträumte Marienkircherl in idyllischer Landschaft, stolze Hofkapellen … Aber in der großen Stadt ist alles ganz anders. Im Innenstadtbereich von München – den wir hier innerhalb von 2,5 Kilometern rund um den Dom verorten – existiert nur ein einziges winziges Kapellchen, das als Bauwerk tatsächlich komplett frei und offen dasteht: die Ölbergkapelle nahe der Isar im Stadtteil Au. Die erinnert aber weniger an ein Postkartenmotiv, sondern wirkt eher wie ein ganz unspektakulärer Bildstock. 

Nur wenige frei stehende Kapellen

Drei größere Kapellenbauwerke finden wir angedockt an andere kirchliche Objekte: am eigenständigsten noch die Lorettokapelle neben der Kirche St. Nikolai am Gasteig, dann die Schmerzhafte Kapelle beim Kapuzinerkloster St. Anton und die Kreuzkapelle im Gebäudekomplex der Jesuiten von St. Michael. Das war’s! Weitere frei stehende oder von der Straße aus erkennbare Kapellen scheint es nicht zu geben. Recherche beendet?

Moment … Noch ein paar weitere Fundstücke gelingen unter dem „Deckmantel“ größerer Kirchen. So dürfen wir in der dick eingemauerten Sakramentskapelle im Liebfrauendom feststellen: Mit eigener gottesdienstlicher Nutzung und einem Tabernakel für das Allerheiligste darf auch diese „Enklave“ als eigenständige Kapelle gelten. Und die Krypten von St. Benno, St. Bonifaz und St. Jakob am Anger, für die dasselbe gilt, haben sogar allesamt einen eigenen Zugang unabhängig von der Kirche, zu der sie gehören.
    

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Klinikkapellen sind Passionsorte

Aber wo gibt es Kapellen, die ihr Dasein nicht einer benachbarten Kirche verdanken? Dort, wo Menschen sie brauchen – in Krankenhäusern! Ganze acht Kliniken mit katholischer Kapelle fördert unsere Suche in der Innenstadt zutage (in drei weiteren hat der Sakralraum sogar den Status einer Kirche). Wenn wir uns in eine dieser Klinikkapellen setzen und der dortigen Atmosphäre nachspüren, bemerken wir schnell, dass das nicht der Ort für Orchestermessen oder Hochämter mit Fahnenträgern ist.  

Es geht hier eher um stillen Trost und Beistand für Menschen, die verletzlich und heilungsbedürftig sind, denen angst und bange ist – und für ihre Lieben, die „mitleiden“. Das gilt in der Augenklinik, aber freilich in noch dramatischerer Weise im Kinderspital und in der Psychiatrie. Klinikkapellen sind Passionsorte. Der Glaube trumpft hier nicht auf, es werden leise, zurückhaltende Töne gespielt. Insbesondere auch ökumenische! Denn sind im Krankenhaus, angesichts des OP-Tisches oder gar des Todes, alle Menschen nicht ein bisschen gleicher als draußen?

[inne]halten - das Magazin 12/2025

Geist der Freiheit

Für Kardinal Reinhard Marx ist Freiheit mehr als ein politisches Schlagwort - sie ist das zentrale Thema seines theologischen Denkens. Im Interview spricht er über ihre Wurzeln im chistlichen Glauben, über die Entwicklung der Kirche zur Verteidigerin von Freiheitsrechten und darüber, warum Freiheit immer auch Verantwortung bedeutet.

Lesen Sie im [inne]halten-Magazin unseren Themenschwerpunkt und weitere Geschichten und Berichte aus dem kirchlichen Leben.

Freiflächen für Rollstuhlfahrer

Dasselbe bemerken wir in den Hauskapellen von Alten- und Pflegeheimen. Ist es nicht eine schöne Geste, ja mehr noch: praktische Nächstenliebe, wenn ein Großteil der Fläche im Kapellenraum unbestuhlt bleibt, damit Rollstuhlfahrer bequem Platz finden? Und ist es nicht bewegend, wenn in der Hauskapelle des Behindertenwohnheims eine Fotocollage an verstorbene Bewohner erinnert, die hier wer weiß welche existenziellen Höhen und Tiefen, Hoffnungen und Ängste erlebt haben, aber in ihrer menschlichen Würde immer angenommen waren? Wer diesen Raum mit derlei Eindrücken wieder verlässt, der hat die christliche Botschaft auf einer sehr niederschwelligen Ebene vor Augen, weit unterhalb von bombastischen Kathedralen und virtuoser Kunst …

Wir ziehen weiter und entdecken eine ganz andere gesellschaftliche Gruppe, die uns ebenfalls zu versteckten Kapellen führt: Schülerinnen, Studenten und Auszubildende. Ob im Theresia-Gerhardinger-Gymnasium am Anger, im Schwesternwohnheim Maria Regina oder im Jugendwohnheim Marienheim, ob in den Studentenwohnheimen Theresianum, Sophie-Barat- und Newman-Haus, im Studienhaus MaxTor95 oder in der Katholischen Hochschulgemeinde – überall dort gibt es Kapellen, in denen nicht nur regelmäßig Gottesdienst gefeiert wird, sondern in denen auch jener frische Geist weht, der so typisch ist für junge, wissbegierige Menschen mit weit geöffneten Lebensperspektiven. 

Vom Kolpinghaus bis zur Residenz

Und dann die katholischen Verbände! Kolping und Caritas, Missio München und die Katholische Jugendfürsorge – auch sie verfügen über Hauskapellen für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das eigene berufliche Tun unter einen Segen stellen, dem manchmal monotonen Alltag einen anderen Rahmen geben, indem der Arbeitstag mit einer Morgenandacht beginnt – ein inspirierender, ein schöner Gedanke. Übrigens steht auch im Erzbischöflichen Ordinariat eine – höchst modern gestaltete – Hauskapelle als Gebetsraum bereit, und klar, dass auch der Erzbischof eine eigene Kapelle im Haus hat. Aus monarchischer Zeit sind in der Residenz und in der benachbarten Theatinerkirche sogar noch drei Hof- oder Fürstenkapellen erhalten …

Die vielleicht verblüffendsten Funde machen wir aber bei den muttersprachlichen Gemeinden, die sich über Sprache oder Nationalität zusammengetan haben. Manche von ihnen verfügen nicht nur über Büros, sondern auch über einen eigenen Sakralraum für Messfeiern. Ob in der polnischen Mission, bei der internationalen englischsprachigen Gemeinde oder in der Kapelle St. Nikolaus und Sel. Leonid der russischen katholischen Gemeinde – hier wird der ganze kulturelle Reichtum der katholischen Welt greifbar. 

Hunderte von Gottesdienstbesuchern

Und was wir beim Besuch des Sonntagsgottesdienstes in der Kroatenkapelle in der Schwanthalerstraße erleben, bringt uns schwer ins Grübeln: Mehrere hundert Personen sind da; mit Lautsprechern wird die Messe auch ins Freie übertragen, weil nicht alle im Gebäude Platzfinden – wo gibt es das bei uns eigentlich noch, dass die Menschen so zahlreich, so selbstverständlich, ja so pflichtbewusst zum Gottesdienst strömen?

Zum Abschluss führt uns unser Streifzug zu einer traditionellen Herdflamme des kirchlichen Lebens: den Ordensgemeinschaften. Gut ein Dutzend Haus- und Klosterkapellen steuern auch sie zum bunten Münchner Kapellenreigen bei: die öffentliche Hauskapelle des Salesianums in Haidhausen oder die gewaltige Kapelle St. Petrus Forerius bei den Armen Schulschwestern in der Au, den einzigartigen Hochchor der Franziskaner in St. Anna oder die winzige „Wohnzimmerkapelle“ der Schwesterngemeinschaft Caritas Socialis … 

Wissenswert
Die Recherche für diese Geschichte war eine regelrechte Entdeckungsreise, die uns mithilfe vieler Telefonate sowie rund 350 E-Mails in 60 Kapellen geführt hat; viele davon wurden uns persönlich aufgesperrt und gezeigt. In Ermangelung einer offiziellen Definition haben wir anhand bestimmter Kriterien (eigener Tabernakel, regelmäßige Eucharistiefeier, Benennung als Kapelle ...) entschieden, welche Räume als Kapellen zu zählen sind. Einige weitere Besinnungs-, Gebets-, Andachts- und Gedenkräume sowie Seitenkapellen erfüllen diese Kriterien nicht. Besichtigt werden können z. B. die Klinikkapellen, die Schmerzhafte Kapelle bei St. Anton, die Krypta von St. Benno sowie die Hauskapellen von Missio München und im Salesianum – die meisten anderen sind nicht oder nur zu Gottesdienstzeiten zugänglich.

Die komplette Liste der Kapellen und eine nach Stadtteilen unterteilte Bildergalerie mit rund 130 Impressionen, Kuriosa und Kostbarkeiten finden Sie hier.

Frühchristlich anmutendes Beisammensein

In der Hauskapelle der Jesuiten-Kommunität St. Ignatius wird unser Besuch zum unvergesslichen Erlebnis: Ein Jesuitenpater (und Universitätsprofessor) zelebriert eine kleine mittägliche Eucharistiefeier, die nur drei Mitfeiernden sind mit voller Aufmerksamkeit dabei; eine kleine, innige Runde, ein beinahe frühchristlich anmutendes, geschwisterliches Beisammensein nach dem Motto „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind“; oder, noch poetischer ausgedeutet, eine geschützte, von der rastlosen Welt umbrandete Glaubenskapsel, eine eucharistische Wabe …

Unzählige Impressionen haben wir zwischen den Extremen der brechend vollen Kroatenkapelle und der Kleinstfeier in der Jesuiten-Hauskapelle aus rund 60 höchst unterschiedlichen Kapellen gewonnen. Dabei ist diese enorme Zahl bereits Ausdruck eines Schrumpfungsprozesses, denn früher waren es noch mehr: Ob in Schulen, in Ordensniederlassungen oder in einem Pfarrhaus, ob in diversen Münchner Palais und Villen, im Herzoglichen Georgianum oder sogar in Hotels – unsere Recherche brachte uns auch auf die Spur ehemaliger Kapellen, die heute nur noch in alten Dokumenten existieren. Und von den noch existierenden Räumen sind manche bereits dauerhaft geschlossen. 

Kapellen verkörpern eine dynamische Kirche

Über welche Beobachtungen könnten wir weiter nachdenken? Vielleicht über diese: Erstens, gelebter Glaube ist nicht immer „weit über alle Land“ sichtbar, er kann sich auch im Verborgenen abspielen. Zweitens, einige wenige Kapellen, vor allem in Krankenhäusern, haben etwas Einzigartiges zu bieten: Sie sind rund um die Uhr geöffnet. Wenn man im Notfall nicht nur bei der Telefonseelsorge anrufen, sondern jederzeit auch einen spirituellen Raum aufsuchen kann, ist das eine bemerkenswerte Option. Drittens, Glaubensgemeinschaften müssen nicht mit geografisch definierten Gebieten korrespondieren. Die Innenstadtkapellen, die mehrheitlich von pfarreiunabhängigen Gruppen oder Institutionen betrieben werden, verkörpern eine dynamische Kirche, die gezielt Menschen in bestimmten Lebenssituationen und mit besonderen Herkünften, Bedürfnissen oder Interessen anspricht.  

Vor allem aber bleibt der Eindruck: welche Vielfalt, welche Fülle an Möglichkeiten! Und das bei flexibler, wenig kostenintensiver Nutzung. Können Kapellen, vielleicht auch außerhalb der Großstadt, ein Baustein sein auf dem Weg zu einer Kirche der Zukunft, die so dezentral, lebensnah und individuell sein möchte wie die Menschen, um die es ihr geht?

Innehalten-Leseempfehlung
Joachim Burghardt
Artikel von Joachim Burghardt
Redakteur
Immer auf der Suche nach spannenden, kontroversen und kuriosen Themen rund um Glauben und Wissen.