Kultur und Wissen
04.06.2025

Über den Reiz kleiner Sakralräume

In der Münchner Innenstadt gibt es über 100 Kirchen und Kapellen. Wir haben sie fast alle besichtigt und einige Erkenntnisse gewonnen.
    

Ein typisches Beispiel für einen flexibel nutzbaren und ökumenischen Sakralraum: die Klinikkapelle im Deutschen Herzzentrum in München. Ein typisches Beispiel für einen flexibel nutzbaren und ökumenischen Sakralraum: die Klinikkapelle im Deutschen Herzzentrum in München. Foto: © SMB/Burghardt

105 katholische Kirchen und Kapellen auf nicht einmal 20 Quadratkilometern – so sieht das Ergebnis unserer Recherche in der Münchner Innenstadt aus, die sich aus der Pilgertour mit allen 45 Kirchen an einem Tag sowie aus der Ermittlung von 60 Kapellen ergibt. Rund 100 dieser Sakralräume konnten wir persönlich besichtigen. Entscheidend ist dabei aber nicht so sehr die bloße Zahl (die von der Definition und der geografischen Bemessung abhängt und dementsprechend größer oder kleiner ausfallen könnte), sondern die Feststellung, dass damit tatsächlich auch eine ungeheure Vielfalt an Kunst- und Architekturstilen, Gestaltungslösungen, Raumwirkungen, Nutzungsformen und Zielgruppen korrespondiert.  

Von der winzigen Hauskapelle, in der man ohne Schuhe auf Korkboden sitzend Eucharistie feiert, bis zum gewaltigen Kirchenschiff, dessen Grundfesten im Orgelkonzert erbeben; vom Stundengebet im kleinen Kreis der Ordensgemeinschaft bis zur morgendlichen Werktagsmesse, vom geheimnisvollen Zwielicht einer Krypta bis zur Theaterperformance in der Jugendkirche, vom kulturellen Lokalkolorit im Gottesdienst einer muttersprachlichen Gemeinde bis hin zur Krankenhausseelsorge, von neuen Trends wie Yoga unterm Tabernakel bis zu alternativen Formaten wie einer Kombination aus Heiliger Messe und Fitnesstraining – die Bandbreite liturgischer Ausfaltungen ist schlicht atemberaubend.

Spezielle Ausrichtungen und Interessen

Kein Wunder, dass diese Münchner Fülle von Räumen und Möglichkeiten zu einer Diversifizierung von spirituellen Neigungen, Ausrichtungen und Interessen führt, die sich jeweils an einzelnen Orten sammeln. So ist es kein Geheimnis, dass Liebhaber moderner Kunstprojekte in einer konkreten Kirche beheimatet sind, während konservative Anhänger von Anbetung und Rosenkranz bestimmte andere Innenstadtkirchen als sicheren Hafen wissen; wer beichten will, dem stehen bekannte Beichtkirchen zur Verfügung, während charismatische Gruppen und Gebetsgemeinschaften ebenfalls ihren Stammplatz haben; wieder anderswo finden regelmäßig Konzerte und Literaturlesungen statt, daneben gibt es bevorzugte Touristenkirchen – um nur wenige Beispiele zu geben.

Was im Großen für die Kirchen gilt, trifft ebenso auf die noch zahlreicheren Kapellen zu, in denen sehr oft ein ganz spezifisches Stammpublikum verkehrt: hier Englisch-Muttersprachler, dort Klinikpatienten, hier Ordensleute, dort Caritas-Mitarbeiterinnen, hier Schülerinnen, dort Studenten. Gerade die Kapellen, die ja in der Innenstadt überwiegend nicht als eigene Bauwerke bestehen, sondern als Innenräume in größeren Gebäuden eingerichtet sind, verkörpern eine dynamische Vielfalt, die sich unmittelbar aus den vielen in der Großstadt versammelten Bedürfnissen und Identitäten speist. 
    

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Außerhalb des pfarreilichen Schemas

Um drei Uhr nachts in einer spirituellen Notlage oder Lebenskrise zum Beten in eine Kirche? In München kein Problem, Krankenhauskirchen und -kapellen machen’s möglich. Kapellen und sogar Pfarrkirchen werden in der Metropole zu Verdichtungspunkten spezieller, stadtweit relevanter seelsorglicher Angebote. Einige unterliegen nur bedingt oder gar nicht dem bekannten geografisch-pfarreilichen Schema, sondern orientieren sich an anderen sozialen und lebensweltlichen Hintergründen und haben teils enorme Einzugsbereiche.

Ist das ein in München einzigartiges, nur hier in dieser Form mögliches Phänomen oder lassen sich daraus auch Erkenntnisse für andere, kleinere Städte, womöglich gar für den ländlichen Raum gewinnen? Einerseits ist nicht von der Hand zu weisen, dass die heutige Münchner Kirchen- und Kapellenlandschaft auf bestimmte historische Rahmenbedingungen, die Sonderrolle als Residenz- und Landeshauptstadt, auf hierzulande geltende steuerrechtliche Vorteile für Ordensgemeinschaften und manches mehr zurückgeht. Andererseits darf man aber auch ohne Rücksicht auf die Genese einfach auf das Ergebnis und den effektiven kirchlichen „Wirkfaktor“ schauen und überlegen, was davon ausgebaut werden und anderswo als Vorbild dienen könnte.

[inne]halten - das Magazin 12/2025

Geist der Freiheit

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Größtmögliche Flexibilität

Gerade mit Blick auf die Kapellenräume fällt ja zweierlei auf: Erstens, sie lassen sich vergleichsweise kosten- und raumsparend einrichten, verändern, sanieren und betreiben. Auf Wunsch auch mit ökumenischer Ausrichtung, in Parallelnutzung von mehreren Gemeinden und Gruppen oder mit wechselnden Inneneinrichtungen – mehr sakrale Flexibilität geht nicht. Zweitens, es ist nur überraschend selten von ihnen die Rede. Im Zusammenhang mit kirchlichen Immobilienstrategien liest man meist vom Sanierungsbedarf, der Profanierung und Umnutzung von großen Kirchen sowie von Pfarrhäusern und Gemeindezentren – aber nur selten von Kapellen.

Vielleicht lohnt es sich, gerade die Möglichkeiten kleiner Sakralräume noch mehr in die Überlegungen zur kirchlichen Zukunft mit einzubeziehen – auch außerhalb Münchens. Sollte es unausweichlich sein, die eine oder andere Kirche aufzugeben, ließe sich dem mit der gleichzeitigen Neuschaffung kleinerer Sakralräume etwas entgegensetzen: Sie ermöglichen eine Vielfalt unterschiedlicher Spiritualitätsformen, ein zielgenaues Adressieren seelsorglicher Bedürfnisse und auch ein anderes Gemeinschafts- und Wohlgefühl, als es so manches kalte und wenig heimelige Kirchenschiff bei nur spärlichem Andrang von Mitfeiernden zu spenden vermag.  

„Kapelle“ bedeutet wörtlich übrigens „kleiner Mantel“, womit ursprünglich der Mantel des heiligen Martin von Tours gemeint war – der half und wärmte genau dort, wo er gebraucht wurde.

Die komplette Liste der Kapellen und eine nach Stadtteilen unterteilte Bildergalerie mit rund 130 Impressionen, Kuriosa und Kostbarkeiten finden Sie hier.
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Joachim Burghardt
Artikel von Joachim Burghardt
Redakteur
Immer auf der Suche nach spannenden, kontroversen und kuriosen Themen rund um Glauben und Wissen.