Antisemitismus vor unserer Haustür
Antisemitismus ist ein globales Phänomen – und er wächst offenbar. Auch in Deutschland und Bayern gibt es Grund zur Sorge, wie der bayerische Antisemitismusbeauftragte Dr. Ludwig Spaenle in einem Exklusiv-Beitrag für innehalten.de erläutert.

Die Zahl antisemitischer Straftaten und Vorfälle ist seit dem Terroranschlag der Hamas auf Jüdinnen und Juden am 7. Oktober 2023 und den Folgen des Massakers massiv angestiegen. Allein in Bayern verzeichnete die Polizei für 2023 rund 589 antisemitische Straftaten, die Mehrzahl im letzten Quartal. Und in Deutschland registrierten Sicherheitsbehörden allein von Januar bis September 2024 rund 3.200 antisemitisch motivierte Straftaten – im Jahr zuvor waren es deutlich weniger.
Darüber hinaus nahm die Zahl der judenfeindlichen Vorfälle auch unterhalb der Ebene der Straftaten deutlich zu. Die Folge für viele Menschen jüdischen Glaubens ist Angst. Sie haben Furcht, als Jüdinnen und Juden im Alltag erkannt zu werden. Der Davidstern und die Kippa werden deshalb aus der Öffentlichkeit verbannt.
Antisemitismus – was ist das?
Antisemitismus lässt sich mit den Begriffen Judenhass oder Judenfeindschaft beschreiben. Es gibt verschiedene Varianten: etwa den Judenhass aus dem Christentum heraus, der aufgrund des Vorwurfs, Juden hätten Jesus getötet, jahrhundertelang das Verhältnis zwischen Christen und Juden vergiftet hat. Dieser wurde aber seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den christlichen Kirchen selbst deutlich zurückgedrängt und ist einem interreligiösen Dialog gewichen. Es gibt seit dem 19. Jahrhundert einen rassistischen Antisemitismus, der Juden ethnisch als Menschen zweiter Klasse diffamiert und bis heute von Rechtsextremisten vertreten wird.
Es gibt den sozialen Antisemitismus, der das Vorurteil verbreitet, Juden würden aufgrund ihres Geldes die Welt beherrschen. Wir notieren auch einen ausgeprägten islamistischen Judenhass. Bei diesem diskriminieren und verfolgen Islamisten Menschen jüdischen Glaubens als Abtrünnige vom rechten Glauben. Darüber hinaus gibt es einen politischen und israelbezogenen Antisemitismus, der das Existenzrecht des Staats Israel infrage stellt und der sich zum Beispiel in der Formel „From the River to the Sea“ zeigt („vom Fluss bis zum Meer“, womit ein „freies Palästina“ vom Jordan bis zum Mittelmeer gefordert wird, Anm. d. Red.). Nicht selten überlagern sich bei Antisemiten mehrere Motive des Judenhasses.
IHRA-Definition von Antisemitismus
Für meine Arbeit als Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus spielt die Antisemitismusdefinition der „International Holocaust Remembrance Alliance“ (IHRA) eine wichtige Rolle. Denn sie beschreibt gut nachvollziehbar den Judenhass mit seinen unterschiedlichen Ausprägungen. Deshalb bin ich auch auf rund 100 staatliche Einrichtungen und gesellschaftliche Organisationen und Gruppierungen proaktiv zugegangen und habe sie gebeten, sich mit der IHRA-Definition auseinanderzusetzen und sie für die eigene Tätigkeit zu einem Maßstab des Handelns zu machen und gegen Judenfeindlichkeit anzugehen. Die IHRA-Definition lautet:
„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ Die IHRA-Definition liefert auch konkrete Beispiele für israelbezogenen Antisemitismus. Sie betont aber, dass Kritik am Staat Israel wie an anderen Staaten ausdrücklich nicht antisemitisch ist.
[inne]halten - das Magazin 6/2025

Fastenzeit
Normalerweise verzichten wir in der Fastenzeit auf etwas. Wie wäre es, in diesem Jahr mal das Gegenteil zu tun - und besonders verschwenderisch zu sein? Zu verschwenden gäbe es viel: Zeit und Geld, Freude und Liebe, Kraft und Hoffnung. Ideen wie so etwas aussehen könnte, finden Sie in der aktuellen Ausgabe!
Lesen Sie im [inne]halten-Magazin unseren Themenschwerpunkt und weitere Geschichten und Berichte aus dem kirchlichen Leben.
Neue Stufe von Antisemitismus
Angesichts der aktuellen Vorfälle in der Landeshauptstadt München zum Jahreswechsel und aufgrund der aggressiven Propaganda der radikal-palästinensischen Gruppe „Palästina spricht“ hier in den sozialen Medien erkenne ich eine neue Stufe von Antisemitismus auch in Bayern. Neu ist in Bayern das gewalttätige Vorgehen von propalästinensischen Aktivisten auch gegen Polizistinnen und Polizisten. Neu ist die systematische Vorbereitung zur und Durchführung von Verbrennungen von Israelfahnen.
Neu zu beobachten ist auch: Die radikal-palästinensische Gruppe „Palästina spricht München“ (beobachtet durch den bayerischen Verfassungsschutz) verbreitet Aktionsaufrufe eines Social-Media-Accounts, auf dem offen Formeln propagiert werden, die die Vernichtung Israels intendieren („From the River to the Sea, Palestine will be free“). Hier wird offen Judenhass mit Israelbezug propagiert. Und das dürfen wir nicht zulassen.
Bedrohungslage wahrnehmen und selbst handeln
Wir müssen uns auf die neue Bedrohungslage in Bayern einstellen. Wir dürfen keine Form des Antisemitismus hinnehmen – auch nicht den israelorientierten. Zuschauen und Toleranz sind gegenüber solchen Aktivtätern unangebracht.
Ich plädiere daher für eine Kultur des Hinschauens und mache Bürgerinnen und Bürgern Mut, antisemitische Reden und Handlungen nicht zu dulden. Das fängt in der Schule, am Arbeitsplatz oder im Verein an und setzt sich am Stammtisch oder im Netz fort. Wo jemand über Jüdinnen und Juden Vorurteile verbreitet, ist es wichtig, sich einzumischen. Wo eine gewisse Schwelle überschritten ist oder Jüdinnen und Juden offen diskriminiert oder angegangen werden, ist es nötig, den Vorfall zu melden. Je nach Situation wird die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern oder aber die Polizei die richtige Adresse sein.
Dr. Ludwig Spaenle, Beauftragter für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe in Bayern.
Mehr Informationen gibt es auf der Homepage www.antisemitismusbeauftragter.bayern.de.
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (RIAS Bayern) nimmt Meldungen über antisemitische Vorfälle auf und unterstützt Betroffene von Antisemitismus in Bayern: www.report-antisemitism.de/rias-bayern, Telefon: Büro: 089/122 234 060, Mobil: 0162/2951 961.