Seelenheil auf der Baustelle
Die zweite Stammstrecke in München ist eine der wichtigsten Baustellen in Bayern. Ein Projekt, das so groß ist und so viele Mitarbeiter beschäftigt, dass es mit Florian Wagner sogar einen eigenen Seelsorger hat.

Wo bis vor ein paar Jahren das klotzige betongraue Eingangsgebäude des Münchner Hauptbahnhofs stand, rahmt nun ein massiver Bauzaun ein riesiges Loch. Hinter einem großen Rolltor mit der Nummer sechs wartet die Sicherheitskontrolle: Erst ein Securitymitarbeiter, der sicherstellt, dass nur autorisierte Arbeiter in die Baugrube steigen. Dann ein Schrein der Heiligen Barbara, die sicherstellen soll, dass die Arbeiter nach ihrer Schicht auch wieder heil herauskommen. Gebaut haben den Andachtsort für die Schutzheilige der Bergleute die Tunnelbauer, die hier an der neuen Röhre für die S-Bahn arbeiten, erzählt Gemeindereferent Florian Wagner. „So geht der erste Blick vor Arbeitsbeginn immer zur Barbara“.

Seelsorger mit Helm aber ohne Kirche
Knapp
elf Kilometer soll die neue Stammstrecke lang werden, sieben davon
unter der Erde. Gebaut wird vom Leuchtenbergring über den Marienhof bis
Laim. Am Hauptbahnhof entsteht nicht nur der neue Tunnel, sondern gleich
ein neuer Bahnhof dazu. Mindestens zehn Jahre müssen die mehr als 350
Mitarbeiter noch bohren, graben und betonieren. Eine Mammutaufgabe, für
die es Unterstützung von einem eigenen Seelsorger gibt. Auf den ersten
Blick sieht Wagner wie die meisten Arbeiter auf der Baustelle aus:
Arbeitshose und Jacke in leuchtendem Orange, den weißen Helm immer auf
dem Kopf. „Seelsorger“ ist dort ganz klein und auf seinem Rücken groß zu
lesen. Anfang des Jahres hat er die Pastoral für die zweite
Stammstrecke übernommen. „Eine Kirche habe ich nicht, ich geh einfach
direkt auf die Baustelle“. Ansonsten findet man ihn in seinen Büros in
der Arnulfstraße und an der Donnersbergerbrücke direkt neben der
Baustelle.
Offenes Ohr für die Mitarbeiter
Wagner gestaltet das Programm zu den religiösen Gedenk- und Feiertagen. Zum Beispiel zu den kirchlichen Hochfesten oder zum „Workers Memorial Day“, an dem weltweit an verletzte und gestorbene Arbeiter erinnert wird. Zudem begleitet er die Ereignisse auf der Baustelle. Besonders wichtig ist ihm aber, immer ein offenes Ohr für die Mitarbeiter zu haben. Viele von ihnen kommen aus dem Ausland und leben zugleich auf der Baustelle. „Die bringen somit auch alle anderen Belastungen aus ihrem Leben mit zur Arbeit“, weiß der 43-Jährige. Da sei es gut, jemanden zu haben, der zuhört und begleitet, ohne Kollege oder Chef zu sein.

Betriebsräte wollten eigene Baustellenseelsorge
Ein
eigener Betriebsseelsorger in Vollzeit lohnt sich für eine Baustelle
dieser Größenordnung, sagt Betriebsratsvorsitzender Christian Schnabel.
Das hätten auch die Erfahrungen aus Stuttgart 21 gezeigt. Dort hat sich
die Betriebsseelsorge als neutrale Ansprechstelle bezahlt gemacht. „Das
hat das Miteinander und auch das Verständnis so gut gefördert, dass wir
das für das Großprojekt München auch wollten“. Abgesehen von seinen
Rollen als Kummerkasten und Vermittler steht Wagner den Mitarbeitern
auch in Notfällen bei. Diese Sicherheit zu haben, im Extremfall auf
einen Seelsorger zurückgreifen zu können, ist vielen Arbeitern wichtig,
sagt Schnabel.
Bewährungsprobe bei Bombenexplosion
Sicherheit wird auf der Baustelle zur zweiten Stammstrecke großgeschrieben, sowohl von den Gewerkschaften und Betriebsräten als auch von der Deutschen Bahn. Tote hat es bisher noch keine gegeben. Wenn etwas passiert, dann meistens Kleinigkeiten. Und dann war da dieser eine Tag im Dezember 2021, als eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg explodierte. „Danach haben viele noch lange mit dem Schock gekämpft, und die Betriebsseelsorge hat da ungemein geholfen“, sagt Schnabel über Wagners Vorgängerin.
Glaube spielt auch bei Mitarbeitern anderer Religionen eine Rolle
Der
neue Stammstreckenseelsorger hofft indes, dass es keinen weiteren
Zwischenfall dieser Art geben wird. Zu tun hat er trotzdem genug. Das
zeigen auch die diversen Barbaraschreine auf den unterschiedlichen
Baustellen der neuen S-Bahnröhre: Der Glaube spielt eine Rolle – nicht
nur bei den christlichen Mitarbeitern. So hat man zum Beispiel auch den
Ramadan und das Zuckerfest gemeinsam gefeiert. „Darauf muss einfach
Rücksicht genommen werden“, sagt Wagner.
Außerdem: Ein guter Draht nach ganz oben kann nicht schaden. Vielleicht helfen ja auch Gebete dabei, dass die Fertigstellung der zweiten Münchner Stammstrecke nicht noch weiter nach hinten verschoben werden muss.