Kolumne
Ein Apostel als Lebenswegweiser: wie Bartholomäus irritieren und inspirieren kann
Die Bartholomäus-Figur in der Wasserburger Jakobskirche hat unseren Kolumnisten Alois Bierl in ihren Bann geschlagen. Er hat sich gefragt, warum gerade dieses unspektakuläre Kunstwerk ihm ein Symbol für Mut, Entschlossenheit und Lebensweisheit ist.
Der Mann fällt mir auf. Immer wieder muss ich während des Gottesdienstes zu ihm hinüberschauen, er lenkt mich ständig ab. Er ist in Bewegung begriffen, schreitet nach vorne und macht mich etwas unruhig. Dabei ist er eigentlich eine ziemlich graue und starre Erscheinung. Der Mann ist eine Figur, die mitten in Wasserburg am Inn an der Nordwand der Jakobskirche befestigt ist. Und ich frage mich, warum er mich so in Bann schlägt. Der Bildhauer zeigt ihn in einer trittsicheren Schrittbewegung, obwohl sein Weg abschüssig ist: der Stein, auf dem er geht, zeigt steil nach unten. Trotzdem schaut er nicht zu Boden, sondern sein entschlossener Blick ist in die Weite gerichtet, nicht ins Leere! Er ist wahrscheinlich noch länger unterwegs, denn er trägt einen Rucksack, und der Mann rechnet wohl mit Regenwetter, weil er sich seine Kapuze über den Kopf gezogen hat.
Ein Mann unterwegs
Er trägt eine lange Toga und eine Art Mantel darüber, solide Reisekleidung. Mir fällt auf, dass er ein großes Buch in der rechten Hand hält, das er so fest umklammert, dass die Sehnen und Adern unter der Haut hervortreten. Die Figur ist kein berühmtes Kunstwerk, eher eine gediegene und handwerklich einwandfreie Arbeit, vom Ende des 19. Jahrhunderts. Eine Kunstepoche, die ich normalerweise nicht mag und mir meistens etwas flach vorkommt. Wie ich später im Internet nachlese, zeigt die Figur den Apostel Bartholomäus und stammt von Max Heilmeier, einem Bildhauer aus der Region. Dennoch trifft mich die Skulptur so stark, dass ich sie auch nach dem Gottesdienst noch lange betrachte. Ich glaube, sie zeigt mir ein bisschen, wie ich selbst weiter durchs Leben gehen möchte. Ich bin nicht mehr der Jüngste und weiß, wie es so lapidar heißt, dass es allmählich abwärts geht. Die Gesichtszüge der Figur zeigen einen Mann in meinem Alter, weit in den Fünfzigern, „on the bad side of fifties“, wie die Engländer sagen.
Kein starrer, sondern ein neugieriger Blick
Aber anstatt jetzt ängstlich auf den nächsten Schritt zu achten oder gar stehen zu bleiben, um ja nicht zu stolpern, marschiert dieser Mann einfach weiter und lässt sich nicht durcheinanderbringen, selbst wenn er leicht in die Knie geht. Dieser Apostel schaut dabei nicht einfach starr geradeaus, sondern dreht den Kopf nach rechts. Es interessiert ihn nicht nur, was unmittelbar vor ihm liegt, er will wissen, was um ihn herum vorgeht, bleibt neugierig und macht es sich nicht bequem. Das Buch in seiner Hand, bestimmt ist es eine Bibel, kommt mir dabei wie eine Art Reiseführer für diesen Mann in Bewegung vor. Dieses Buch braucht er und auf dieses Buch verlässt er sich. So würde ich meine nächsten Jahre auch gerne angehen: umsichtig, aufgeschlossen, im Glauben und mit sicherem Vertrauen auf das, was mir bevorsteht. Mir kommt es aber oft so vor, als würde ich unsicher auf einem steil abfallenden Gelände stehen bleiben, nach vorne auf die Hindernisse starren, die noch gar nicht zu sehen sind – aber die sich schon noch einstellen werden – und den Blick in die Weite verlieren. Bloß nicht daran denken, was kommen könnte oder besser: bestimmt kommen wird: das Ende, der Tod. Nicht nur der Weg, sondern ich selbst komme mir dann so eng vor.
Die unbewegliche Figur in einen Film stellen
Ich schaue noch einmal auf den Apostel, der da über mir dahinschreitet. Wie könnte sich diese sicher voranschreitende Figur vor diesem für immer festgefrorenen Moment in der Wirklichkeit verhalten haben? Und ich stelle sie in einen inneren Film hinein. Da steht sie zunächst so da, wie ich mir manchmal vorkomme: unsicher, auf den Boden blickend, nach Hindernissen suchend und nach Gründen, warum es nicht viel besser wäre, stehen zu bleiben und sich jetzt gemütlich einzurichten, sich einfach wegzuducken vor schweren Gedanken und Gefühlen und einem unbekannten Weg. Und dann schaut der Mann auf. Er muss sich nicht einmal überwinden weiterzugehen, weil er plötzlich weiß, da wartet etwas oder jemand auf ihn, dem er ständig näherkommen will. Und sein furchtsames Zögern und Innehalten sind unabdingbar dafür, dass er jetzt ins Unbekannte ausschreitet und sich einem geheimnisvollen Ziel nähert.