Achtsamkeit
29.04.2024


Alltagsspiritualität

Was im Leben wichtig ist: Wut und Vergebung

Der 70-jährige Bestsellerautor und spirituelle Lehrer, Pierre Stutz, antwortet auf spirituelle Fragen der jungen Moderatorin Michelle Mink. Dieses Interview basiert auf der vierten Folge des Video-Podcasts „Was im Leben wichtig ist“.

Foto: © SMB

Michelle Mink: Manchmal packt mich eine Wut, wenn ich etwa Menschen mit Hunden oder Katzen sehe, die völlig überzüchtet sind und deshalb keine Luft bekommen oder Gelenkprobleme haben: sogenannte Qualzuchten. Wie können sie nur! Du warst nicht nur Priester, sondern hast auch eine sechsjährige sozialtherapeutische Ausbildung. Mit Wut und Empörung kennst Du Dich wahrscheinlich aus. Sollte ich mir Wut oder Empörung verkneifen, weil sie mein inneres Gleichgewicht stört?

Pierre Stutz: Verkneif sie Dir nicht. Ärger, Wut, Zorn haben immer einen Grund. Und da gilt es, wie ich es nenne, eine spirituelle Spur zu entdecken. Grundsätzlich gilt bei allen großen Lebensthemen: alles, was ich mir verbiete, wird noch stärker und bekommt dadurch Macht über dich. Ich kenne das von mir selbst. Jahrzehntelang habe ich mir verboten, wütend zu sein, weil ich das so gelernt habe: ein guter Christ ist immer freundlich und versucht immer Frieden zu stiften. Ich habe also alles in mich hineingefressen, mit der Folge, dass ich jahrelang immer wieder starke und lange Brechanfälle gehabt habe, denn der Körper ist ein Seismograph der Seele.

Was hast Du dann getan?

Stutz: Ich habe mich lange damit beschäftigt, wie mein „Lebensfreund“ Jesus von Nazareth damit umgegangen ist. Er ist für mich ein Vorbild: Er hat das Wachstumspotential in den Menschen gesucht und das Positive freigelegt. Zugleich ist da ein Mann, der sehr laut werden konnte, wenn anderen Unrecht geschehen ist, wenn jemand ausgegrenzt wurde. Und dazu sind wir aufgerufen, konstruktiv mit diesen Kräften umzugehen, indem ich mich selbst liebevoll frage, was läuft da in mir ab, wenn ich an die Decke gehen will.

Wie geht das denn, in der akuten Wutsituation nicht herumzubrüllen?

Stutz: Ich würde Dir empfehlen nachzuspüren, was Dich da empört. Schon wenn Du Dich das fragst, entsteht eine gewisse Distanz: die Wut ist noch da, explodiert aber nicht und kann nicht eskalieren. In der Familie, oder je besser wir jemanden kennen, können wir auch ein bisschen herumschreien. Das ist immer noch besser als es in sich hineinzufressen, dann nehme ich meine Werte und meine Befindlichkeit zu wenig ernst.

Und wie finde ich die Balance? Wo soll ich meinem Ärger Luft machen und wo nachsichtig sein, anderen vergeben?

Stutz: Konfliktfähigkeit ist das große Lebensthema eines spirituellen Menschen. Und Balance ist ein wichtiges Stichwort. Ich glaube, es hilft darauf zu schauen, was hat die Wut mit meinen Lebenserfahrungen, meinen Werten, vielleicht auch mit meinen Verwundungen zu tun, dann kann ich schon einmal konstruktiver in eine Auseinandersetzung gehen. Das ist für mich schon der erste Schritt zur Friedensarbeit und zur Vergebung.

(Redaktion: Alois Bierl)

Michelle Mink
Artikel von Michelle Mink
Volontärin
Arbeitet crossmedial im Michaelsbund und wird an der Journalistenschule ifp ausgebildet.