„Ich wollte das nicht – es war eine Berufung“
Vor knapp einem Jahr wurde Christian Ulbrich (32) aus Höchstadt an der Aisch zum Priester geweiht. Seine erste Stelle führte ihn als Kaplan nach Dachau, wo wir mit ihm über Einsamkeit und Zölibat, seine Priester-WG und sein Berufungserlebnis gesprochen haben.

Joachim Burghardt: Zuerst mal eine Klarstellung: Dieses Gespräch wird sich nicht zum soundsovielten Mal um die Krise der Kirche drehen. Wie finden Sie das?
Christian Ulbrich: Sehr wohltuend! (lacht)
Als Kaplan haben Sie beruflich viel mit Kindern und Jugendlichen zu tun, vom Schulunterricht über die Erstkommunionvorbereitung bis zur Ministrantenarbeit. Gibt es bei Teenagern eigentlich noch ein Interesse an Gott – oder ist allein dieser Begriff schon altmodisch?
Ulbrich: Der Begriff „Gott“ wird vielleicht schon als altmodisch wahrgenommen, und viele unserer Begriffe passen nicht bei der ersten Begegnung. Erst wenn Vertrauen gewachsen ist, und wenn die Jugendlichen spüren, dass man etwas zu erzählen hat, dann steigt das Interesse. Die Herausforderung ist, mit ihnen überhaupt erst mal auf eine Ebene zu kommen, an der man andocken kann.
Wie gelingt das?
Ulbrich: Ich biete zum Beispiel „Glaubensabende“ für Jugendliche und junge Erwachsene an. Wir treffen uns einmal im Monat, essen zusammen, schauen eine moderne biblische Serie mit Impulsen von mir und führen dann Glaubensgespräche. Das sind für mich persönlich Sternstunden, weil ich merke, dass bei den jungen Leuten eine Bereitschaft da ist, den Glauben zu entdecken.
Und die Grundschulkinder der zweiten und dritten Klasse, denen Sie Religionsunterricht erteilen?
Ulbrich: Die Kinder sind stark durch die Digitalität geprägt, die Aufmerksamkeitsspanne ist geringer, man muss ihnen Spannung bieten und sie bei der Stange halten. Religiöses Vorwissen ist bei den meisten gar keines da. Das bietet aber auch Chancen. Die biblischen Erzählungen kommen bei den Kindern gut an und lassen Fragen entstehen: Ist das wahr? Ist das wirklich passiert?
Kann man seinen Glauben überhaupt mit Worten weitergeben? Oder kann man ihn nur vorleben?
Ulbrich: Eine schwierige Frage. Grundsätzlich ist es schon möglich, über den Glauben zu sprechen und Glauben zu vermitteln. Aber es muss eine Lebenserfahrung dahinterstehen, ein Zeugnis, das man ablegt.
Haben Sie Ihr erstes Weihnachten und Ihr erstes Ostern als Priester anders erlebt als bisher?
Ulbrich: Ja! Vor beiden Festen war ich sehr nervös. Es ist einfach etwas anderes, im Gottesdienst die Verantwortung zu haben und zu wissen: Wenn ich das jetzt versemmle, sind viele Leute traurig. Aber es war wunderschön.
Sie wohnen zusammen mit zwei anderen jungen Priestern in einer Kommunität. Wie kann man sich diese Priester-WG vorstellen: Wird da zusammen gekocht und Fußball geschaut?
Ulbrich: Jeder von uns hat sein eigenes kleines Apartment, und wir teilen uns eine Küche, ein Wohnzimmer und die Kapelle. Wir kochen selbst, allerdings eher nicht zusammen, weil das meistens schiefgeht ... (lacht). Das Kochen stresst mich deutlich mehr, als wenn ich eine Predigt halten muss. Aber ja, wir essen zusammen, schauen auch mal Fußball, haben Gäste … Und wir beten jeden Tag gemeinsam die Laudes und halten zusammen eine persönliche, stille Gebetszeit. Es hat Elemente wie eine normale WG, und es gibt auch geistliche Elemente.
Ganz simpel gefragt: Wie ist es, Priester zu sein?
Ulbrich: Zunächst einmal sehr schön! Ich würde sagen, es hat zwei Seiten: Einerseits nehme ich bei anderen eine große Zuneigung und Freude darüber wahr, dass sich ein junger Mensch entschieden hat, Priester zu werden und für sie da zu sein. Mir ist vor allem die Nähe zur Jugend wichtig und dass die jungen Leute mit mir über alles sprechen können. Andererseits ist auch das Bewusstsein da, dass ich mein Leben zuallererst Gott versprochen habe. Das ist etwas, das mich und meinen Lebensalltag von anderen unterscheidet. Naja, und der Zölibat spielt natürlich auch eine Rolle: Ich genieße eine gewisse Unabhängigkeit und muss abends um acht nicht daheim sein, weil keine Familie auf mich wartet. Andererseits muss ich aufpassen und für mich selbst sorgen, weil es sonst niemand tut.
Wie schwierig ist es, im Zölibat zu leben?
Ulbrich: „Schwierig“ ist vielleicht nicht das angemessene Wort. Es gibt die Momente, in denen der Verzicht deutlich spürbar wird, gerade in meinem Alter. Aber grundsätzlich ist es schön, zu spüren: Für die Gläubigen in der Pfarrei bin ich da – und so kann ich auf meine Weise auch väterlich sein.
Papst Benedikt XVI. hat gesagt: „Wer glaubt, ist nie allein.“ Aber: Wenn der Glaube so sehr das eigene Leben prägt wie bei Ihnen – kann das nicht auch einsam machen und frustrieren, wenn Sie sehen, dass das, wofür Sie brennen, für viele andere nur ein Nebenaspekt ist oder gar keine Bedeutung hat?
Ulbrich: Genau das ist die Spannung, die ich erlebe: einerseits die schönen Momente, wenn ich bei den Menschen bin, Glaube geteilt wird und wächst, andererseits auch eine gewisse Einsamkeit, manchmal ein Unverstandensein. Aber das ist eine besondere Einsamkeit, und dann bin ich zurückgeworfen auf meine Gottesbeziehung. Trägt mich mein Glaube auch in Momenten der Einsamkeit und der Frustration? Bin ich im Letzten in Gott geborgen? Das sollte der Fall sein! Manche dunklen Momente muss man durchstehen, da muss man sich entscheiden und fragen: Wofür bin ich angetreten?
Auf welche Reaktionen stoßen Sie eigentlich, wenn erkannt wird, dass Sie Priester sind?
Ulbrich: Manchmal gibt es seltsame oder überraschte Blicke, und ich komme beim Einkaufen immer wieder ins Gespräch mit Leuten – meistens ist die Reaktion am Ende positiv. In Jerusalem bin ich allerdings schon einmal angespuckt worden, weil ich als Priester erkannt wurde.
Gibt es einen Punkt, wo sich Ihre Erwartungen ans Priestersein nicht erfüllt haben?
Ulbrich: Am Anfang, im Priesterseminar, hatte ich gehofft, dass ein schnellerer Aufbruch in der Kirche stattfinden würde. Wenn ich diese Sichtweise noch heute hätte, wäre ich jetzt sehr enttäuscht. Aber ich habe gelernt, dass das Zeit braucht und dass man auch die kleinen Aufbrüche nicht übersehen darf. Man kann nichts erzwingen!
Wie hoch ist die Arbeitsbelastung? Manche Priester werden von den Anforderungen aufgerieben …
Ulbrich: Als Kaplan bin ich in einer geschützten Position, weil ich weder Personalverantwortung noch die Letztverantwortung trage. Aber ich muss im Pfarrverband mehr leisten als ein Kaplan noch vor 30, 40 Jahren, der nur eine einzige Pfarrei zu betreuen hatte. Wenn kein früher Gottesdienst oder die Schule ansteht, gehe ich zwischen 8 und 9 Uhr aus dem Haus – und komme abends zwischen 19 und 23 Uhr wieder. Ich habe Respekt vor den Aufgaben, die künftig noch auf mich zukommen …

Ulbrich: Meine Großmütter haben mich geprägt, zum Beispiel mit dem Abendgebet. Auch meine Mutter war und ist kirchlich aktiv. Nach meiner Erstkommunion zog ich mich dann aber zurück. Viele aus meiner damaligen Klasse wurden Ministrant, ich wollte das nicht. Jahrelang war ich dann nur in der Kirche, wenn ich musste.
Welche Pläne hatten Sie als Jugendlicher?
Ulbrich: Mit 16 habe ich begonnen, mich stark für wirtschaftliche Themen zu interessieren, ich habe viel gelesen und bei Börsenspielen mitgemacht. Mir war klar: Das will ich beruflich machen! Nach dem Abitur und einem mehrmonatiken Praktikum bei einem Marktforschungsinstitut in London habe ich dann in einem Dualen Studium Wirtschaftswissenschaften studiert und eine Ausbildung zum Industriekaufmann gemacht, ich habe also ab dem ersten Tag meines Studiums auch gearbeitet.
Wie kam dann Gott ins Spiel?
Ulbrich: Es begann schon etwas früher: Noch als Jugendlicher fand ich wieder zur Kirche zurück und wurde doch noch Ministrant. Später war ich sogar im Pfarrgemeinderat und in der Kirchenverwaltung. Aber so richtig kam Gott erst gegen Ende meines Studiums ins Spiel. Ich war im Auslandssemester in Valencia, durfte mal nur studieren, ohne auch arbeiten zu müssen. Irgendwie bin ich in dieser Zeit auf die „Einführung in das Christentum“ von Joseph Ratzinger gestoßen. Dieses Buch hat mich total fasziniert, das war ein Schlüsselmoment. Ein paar Wochen später machte ich mit meiner Familie eine Kreuzfahrt in der Ostsee. Da war ganz viel Zeit! Und mein Herz war wohl bereit, Gott zu begegnen. Ich hatte eine sehr intensive Gotteserfahrung.

Hat Gott zu Ihnen gesprochen? Oder war es ein Gefühl? Eine Gewissheit?
Ulbrich: Gefühl würde ich nicht sagen. Ich habe an Deck Spaziergänge gemacht und aufs Meer geschaut. Und als ich da so hinausschaute, war es so, wie wenn noch jemand dahinter ist und mich anspricht. Aber nicht mit Worten. Das geht ganz tief, es ist ein inneres Angesprochen- und Angenommensein. Wie der Unterschied vom Zwei- zum Dreidimensionalen: dass sich plötzlich etwas auftut und vor allem: dass da jemand ist. Es war die Gewissheit, dass ich inmitten der Unendlichkeit dieser Welt von jemandem angesprochen bin.
Wie ging es dann weiter?
Ulbrich: Ich konnte zunächst nicht damit umgehen. Das war damals genau die Zeit, als ich meinen weiteren Berufsweg plante und auf wichtige E-Mails wartete – und dieses Erlebnis war etwas, das ich eigentlich überhaupt nicht brauchen konnte. Ich habe dann zwar angefangen, das Neue Testament zu lesen, habe intensiver den Glauben gelebt und bin bewusster in Gottesdienste gegangen. Aber innerlich habe ich mich weiter gewehrt. Irgendwann kam dann ein Moment, wo ich gemerkt habe: So geht es jetzt nicht mehr weiter. Und plötzlich war der Gedanke da: Was, wenn ich zum Priester berufen bin? Damit ging ein langer, schwieriger Prozess los …
Schwierig inwiefern?
Ulbrich: Weil ich wusste, dieser Gedanke ist jetzt da – aber das ist nichts, was ich mir gewünscht oder was ich gewollt hätte! Aber ich konnte das nicht mehr verdrängen, weil klar war: Dahinter steckt eine Wahrheit. Ich hatte das nicht gesucht, und ich wollte das nicht – es war eine Berufung. Ich habe wochenlang mit der Frage gerungen, wie ich mich dazu positioniere, aber es wurde immer schöner, anziehender und erfüllender. Und so habe ich dann irgendwann, endlich, die Entscheidung getroffen, Priester zu werden.
Ist heute die anfängliche Begeisterung noch da?
Ulbrich: Ja, schon. Vor allem am Anfang ist das Feiern der heiligen Messe etwas ganz Besonderes, und man kann es manchmal kaum fassen, was man da eigentlich tut. Im Laufe der Zeit kehrt dann eine gewisse Nüchternheit ein, und es braucht etwas Disziplin, dass man weiterhin mit derselben Freude, Hingabe und Ehrfurcht die Messe feiert. Aber das bin ich Gott und den Gläubigen schuldig: den Gottesdienst nicht „abzufeiern“.
Sprechen wir zum Schluss über das Ende. Das Große Glaubensbekenntnis schließt mit den Worten: „Wir erwarten die Auferstehung derToten und das Leben der kommenden Welt.“ Wir sitzen hier in einem Friedhof. Was bedeutet Ihnen dieser Satz, mit dem wir diese so unglaubliche, fast unerhörte Hoffnung aussprechen?
Ulbrich: Dieser Satz bedeutet mir sehr viel, weil ich erfahren durfte, dass der Glaube nichts Ausgedachtes ist, sondern dass in unserer Welt, in unserer Geschichte, etwas passiert ist: Gott selber war da in Jesus Christus. Und er ist auferstanden. Wenn das nicht wäre, wüsste ich nicht, mit welcher Perspektive ich weiterleben könnte und sollte. Das merke ich gerade auch bei Beerdigungen, wo es letztlich um genau diese existenzielle Frage geht: Ist es wahr oder ist es nicht wahr? Und es gibt nichts Schöneres, als in solchen Momenten den Menschen über diese wichtigste Sache Hoffnung schenken zu dürfen. Das ist der innerste Grund, warum ich Priester bin.