Glaubenswelten
24.06.2024

„Gott ist Feministin“

Im Interview mit Ines Schaberger spricht Mira Ungewitter darüber, warum sie Feministin wurde, inwiefern die Trauer um ihre verstorbene Mutter ihren Glauben prägte, und wie sie als baptistische Pastorin Menschen in einem Schwangerschaftskonflikt begleitet.

Foto: © Jana Mack

Mira Ungewitter, wie hast du dir Gott als Kind vorgestellt, und wie ist es heute?

Mira Ungewitter: Weder als Kind noch als Erwachsene habe ich mir Gott je personell vorgestellt, sondern als etwas sehr Innerliches empfunden. Natürlich hatte und habe ich Jesusbilder im Kopf, die geprägt sind durch Filme, Kirchenkunst oder Kinderbibeln. Ich habe Gott auch als „lieber Gott“ und „Vater“ angeredet. Heute übe ich, Gott auch weiblich anzusprechen und zu denken – mit Bildern, die Gott von sich selbst in der Bibel malt: als Henne, Gebärende, Hebamme, Bäckerin oder stillende Frau – im Wissen um das Geheimnis, das Gott ist und an das man mit keinem der Bilder ganz genau drankommt.  

„Vater Unser“, „Allmächtiger, ewiger Gott“, „Herr“ – in der Kirche wird Gott oft als männlich dargestellt und angesprochen. Warum findest du das problematisch?


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Ungewitter: Weil es eine zu einseitige Darstellung ist. Gott wird in der Bibel gar nicht so oft als „Vater“ angesprochen, wie man meinen würde. Ohne die weibliche Perspektive geht viel verloren. Schon Dorothee Sölle hat gefragt, wer sich denn so sehr nach der Allmacht Gottes sehnt, und was das über diesen Menschen aussagt. Wer sich einen allmächtigen Gott wünscht, der fühlt sich möglicherweise selbst ohnmächtig oder will seine eigene Macht festigen.  

Wie sprichst du Gott stattdessen an?

Ungewitter: Ich übe eine mütterliche Ansprache, bleibe aber auch in meiner seit 35 Jahren erlernten und gewohnten Gebetssprache. Ich sage nach wie vor „Herr“, was für mich ein Eigenname ist wie „Christus“; „lieber Gott“ oder „Vater im Himmel“. Ergänzend dazu sage ich „die Ewige“ oder „die Güte“ und versuche, neue Bilder für Gott zu finden. 

Ungewitter, Mira Gott ist Feministin
HERDER, FREIBURG, 2023
18,00 €
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In deinem neusten Buch mit dem Titel „Gott ist Feministin“ schreibst du, dass Feminismus ein persönlicher Prozess sei wie alles andere im Leben auch. Wie wurdest du Feministin?

Ungewitter: Das waren verschiedene Einflüsse: Meine Eltern hatten bei meiner Geburt vor knapp 39 Jahren aus pragmatischen Gründen die Rollen getauscht, meine Mutter war erwerbstätig, mein Vater übernahm die Care-Arbeit. 

Als Schülerin der Ursulinenschule in Köln, einer katholischen Mädchenschule, erlebte ich eine sehr mädchenfördernde Umgebung. Mädchen wurden hier ermutigt, in die Naturwissenschaften zu gehen und alles auszuprobieren, von dem es hieß: Das können Mädchen eigentlich nicht. 

Dies hat einen enormen Gerechtigkeitssinn in mir erschaffen, der noch stärker wurde in den letzten zehn Jahren, seit ich als baptistische Pastorin auch viel Ablehnung erlebte und mich mit dem modernen Feminismus beschäftigte.

Immer wieder wirst du gefragt, wie denn Feminismus und dein Glaube zusammenpassen. Nervt dich das?  

Ungewitter: Ich bin dankbar, darüber sprechen zu dürfen! Feminismus bedeutet für mich, die gleichen Rechte und Würde für alle Menschen einzufordern. Ich tue das aus der Überzeugung heraus, dass der Glaube mein Leben und Denken durchzieht. Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und der Wunsch nach einer besseren Welt passen sehr gut mit meinem Glauben an Jesus von Nazareth zusammen. Wenn man als Christ nicht sagen kann: „Ich möchte, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben“, finde ich das problematisch – deshalb bin ich selbstverständlich für das Frauenpriestertum in der römisch-katholischen Kirche. Gerade die katholische Kirche hatte immer schon starke Frauen. Hildegard von Bingen war eine der mächtigsten Frauen des Mittelalters, die heilige Ursula und ihre Freundinnen segelten alleine und Angela von Medici setzte sich für Bildung ein. Diese Frauen haben mich geprägt.

In patriarchal geprägten Gesellschaften wird die Unterdrückung von Frauen oftmals auch religiös legitimiert, wie zum Beispiel die Dokumentation „Female Pleasure“ zeigt. Mit Blick auf das erste Buch der Bibel und die Schöpfungserzählungen ist das aber nicht haltbar, oder...?  

Ungewitter: Ganz und gar nicht! Die beiden Schöpfungserzählungen fasst man gerne als „Schöpfungsordnung“ zusammen, ein Wort, das es in der facettenreichen hebräischen Bibel gar nicht gibt, sondern das mehr nach preußischem Schwarz-Weiß-Denken klingt. 

Eva wurde in Martin Luthers Bibelübersetzung als „Hilfe“ oder „Gehilfin“ dargestellt, wie ein Satellit, der um den Mann kreist. Das ist kompletter Quatsch. 

Das hebräische Wort, das hier benutzt wird, „ezer“, bedeutet Lebensrettung – Rettung aus der Isolation. Ezer wird sonst nur für Gott benutzt. Die Frau ist also mehr als eine Fußnote in der Geschichte.

An deinem Buch hat mich sehr berührt, wie du über Scham im Zusammenhang mit der Ostererzählung schreibst sowie über die ersten Worte Jesu an Maria Magdalena nach der Auferstehung: „Frau, warum weinst du?“

Ungewitter:
Das ganze Elend der Welt spielt sich in dieser Erzählung wieder. Eigentlich müsste ein Trommelwirbel durch die Christenheit gehen angesichts dessen, was Jesus als erstes nach der Auferstehung sagt: „Frau, gyneika, warum weinst du?“ Mit Blick auf die patriarchalen Strukturen weltweit gibt es genug zu beweinen. Die Tränen der Trauer werden nicht negiert. Aber dabei bleibt die Erzählung nicht stehen. Jesus beauftragt Maria, Hoffnung weiterzugeben: „Geh zu meinen Brüdern und bringe ihnen die frohe Botschaft!“ Es war Papst Johannes Paul II., der Maria Magdalena wieder als „Apostelin der Apostel“ bezeichnete.

Deine Mutter, eine Baptistin, prägte deine religiöse Entwicklung sowie dein Gottesbild. 2022 ist sie verstorben. Inwiefern hat die Trauer dich und deinen Glauben verändert?

Ungewitter: Meine Mutter konnte das Buch „Gott ist Feministin“ nicht mehr lesen. Sie hätte die weibliche Gottesrede wohl furchtbar gefunden und gesagt: „Mia, musst du wieder so feministisch sein?“ (lacht). Aus ihrer Perspektive wäre das zu viel Genörgel (wird ernst). Die Trauer hat mich und meinen Glauben verändert. 

Für mich war wichtig, die Trauer zu ehren und zu umarmen. Mir war klar, dass die Trauer die Lösung und nicht das Problem ist.

Das sage ich jetzt so leicht, aber es war und ist unglaublich schwer. Gleichzeitig hat mich diese Erfahrung sensibler gemacht und Empathie geschaffen, die aus Lehrbüchern nicht zu holen ist.

Foto: © Jana Mack

Als 15-Jährige kam dein Weltbild ins Wanken, als deine Mutter dir erzählte, dass sie abgetrieben hatte. So schreibst du in deinem Buch. Wie begleitest du als Pastorin Paare oder Schwangere in einem Schwangerschaftskonflikt?

Ungewitter: Ich mache das nicht jede Woche, aber doch schon einige Male. Menschen, die zu mir kommen, wissen, dass ich eine offene Einstellung zum Thema Schwangerschaftsabbruch habe. Ich versuche dabei, auf meine seelsorgerliche Intuition zu hören. Einmal hatte ich ein sehr christliches Paar vor mir, das sich bis zur eigenen Schwangerschaft wohl als „pro life“ bezeichnet hätte. Das christliche Umfeld war für sie ein großer Druck. Mir war wichtig, den Scham- und Schuldelefanten aus dem Raum zu holen und zu betonen, dass Gottes Liebe ihnen gilt, egal, was sie tun. Denn wenn man vor einer Wand sitzt, dann ist die Angst so groß, dass man aus der Situation einfach raus will und keinen Kopf für eine freie und wohlüberlegte Entscheidung hat. Das Paar entschied sich schließlich für eine Abtreibung.
Ein anderes Mal hatte mich die Freundin einer Freundin kontaktiert. Beim Gespräch hatte ich das Gefühl, sie hatte die Schwangerschaft für sich schon angenommen und ich musste ihr das nur spiegeln, indem ich sagte: „Wenn ich dir zuhöre, habe ich das Gefühl, du hast dein ‚Ja’ zum Kind schon gefunden. Könnte das sein?“ Sie entschied sich, das Kind zu behalten.

Warum bezeichnest du Maria als „Schutzpatronin für Pro Choice“, für die freie Wahl für oder gegen ein Kind?

Ungewitter: Um dieses Kapitel meines Buches zu schreiben, brauchte ich drei oder vier Monate – und ein ganzes Leben. Dabei begleitete mich das Lied „Mother Mary comes to me (…) let it be”. Mich als Protestantin Maria anzunähern, war ein langer Prozess. Dabei beeindruckt mich, dass Maria eine Wahl hatte, dass sie auch hätte „Nein“ sagen können zum göttlichen Auftrag, Jesus zu bekommen. Klar stand Maria nicht vor der Frage, einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen – aber vor der Wahl, ob sie schwanger werden würde oder nicht. Mir ist bewusst, dass es eine sehr steile oder je nach Frömmigkeit eine sehr emotionale oder verletzende Aussage ist, Maria als „Schutzpatronin für Pro Choice“ zu bezeichnen. Darum benenne ich es auch als Gedankenspiel.  

Bist du dafür, Paragraf 218 im Strafgesetzbuch, der Abtreibungen grundsätzlich unter Strafe stellt, abzuschaffen?

Ungewitter: Ja, klar. Es bringt nichts, Schwangerschaftsabbrüche zu bestrafen. Durch Abtreibungsverbote gibt es nicht weniger Abtreibungen, sondern nur Abtreibungen im Geheimen und unter gefährlicheren Umständen. Das konnte man beispielsweise in Rumänien sehen. Umgekehrt finden weniger Schwangerschaftsabbrüche in jenen Ländern statt, wo sie entkriminalisiert sind – weil es beispielsweise mehr finanzielle Hilfen und Betreuungsplätze für Kinder gibt. Im Gesamtkontext feministischer Politik entscheiden sich mehr Frauen für ihr Kind, weil sie mehr Unterstützung erfahren.

Wovon wird dein nächstes Buch handeln?

Ungewitter: Ich spiele mit dem Gedanken, ein Buch über Tod und Trauer zu schreiben – auf eine leichte Art und Weise. Vermutlich werde ich es wieder mit meiner persönlichen Erfahrung verknüpfen. Denn das Persönliche, das ich zunächst als größte Schwäche empfand, hat sich als größte Stärke meiner Bücher entpuppt.

Mira Ungewitter, geb. 1985 in Köln, ist Theologin und baptistische Pastorin, seit 2015 bei der „projekt:gemeinde“ in Wien. Als Feministin setzt sie sich für eine progressive Kirche ein. Sie ist Autorin der teils autobiografischen Bücher „Roadtrip mit Gott“ sowie „Gott ist Feministin“.

Hinweis
Das Interview spiegelt ausschließlich die Meinung der/des Befragten wider.

Ines Schaberger
Artikel von Ines Schaberger
Journalistin und Theologin
Jahrgang 1993, ist Pilgerseelsorgerin in St. Gallen und Gastgeberin des Podcasts „fadegrad“ mit inspirierenden Lebensgeschichten.