Achtsamkeit
21.02.2025

Statt ans Grab zum Avatar

Der Künstler Gregor Schneider stemmt sich gegen die Verdrängung von Sterben und Tod. Mit einer aufwändig entwickelten App und in Zusammenarbeit mit den Münchner Kammerspielen stellt er an unterschiedlichen Orten in der Stadt hochbetagte und unheilbar kranke Menschen vor.
 

Teilnehmer Max Kronawitter (li.) und Künstler Gregor Schneider in der ausgeleuchteten Rotunde, in der 120 Kameras Fotos für einen Avatar anfertigen. Teilnehmer Max Kronawitter (li.) und Künstler Gregor Schneider in der ausgeleuchteten Rotunde, in der 120 Kameras Fotos für einen Avatar anfertigen. Foto: © SMB/Bierl

Wenn Anna Ulrike Bergheim ihre Schubladen und Schränke ordnet, dann findet sie nur ganz wenige Fotos von sich. „Der Bestand aus der Familie ist leider völlig verlorengegangen“, sagt die ehemalige Juristin und Investmentbankerin, die an chronischer Leukämie leidet. Vor ein paar Jahren ist ihr Mann verstorben und auch Kinder sind keine da: „Von daher wird also nicht viel von mir bleiben.“ Und es beschäftigt sie „dieses Wissen, dass ich sehr wahrscheinlich vor der Zeit sterben werde, die ich eigentlich erwarten konnte“. Darum hat sich die 69-jährige entschlossen, an der neuesten Arbeit des Künstlers Gregor Schneider mitzuwirken, um ihren Freunden im wahrsten Wortsinn ein lebendiges Bild von sich zu hinterlassen.  „Ars moriendi“, die Kunst des Sterbens ist sie überschrieben. Gregor Schneider, der unter anderem auf der Kunstbiennale in Venedig ausgestellt hat und als Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie lehrt, kooperiert dafür mit den Münchner Kammerspielen.

Ein Ebenbild, am Computer zusammengesetzt

Das Theater hat Teilnehmer gesucht, „die sich aufgrund ihres hohen Alters oder aufgrund unheilbarer Krankheiten mit dem eigenen Lebensende auseinandersetzen“. 25 Männer und Frauen haben sich gemeldet. Gregor Schneider hat sie in Einzelsitzungen in einer Art Rondell platziert, in dem 120 Kameras in unterschiedlichsten Winkeln angebracht sind. Die daraus in entstandenen Fotos setzt er am Computer zu einem dreidimensional erscheinenden Avatar, also einer Verkörperung der jeweiligen Person zusammen. Ebenso zeichnet er eine Geschichte auf, die sie erzählt.  Alle Teilnehmer haben sich zuvor einen Lieblingsplatz in München ausgesucht, an denen dieser Avatar mit einer App aufgerufen werden kann. Und es erscheint so, als würde er just in diesem Moment leibhaftig an dem ausgewählten Ort stehen und zum Betrachter sprechen, selbst wenn sein Urbild verstorben ist. Auf der App ist eine Karte hinterlegt, die zu diesen Stationen führt. 
    

Gregor Schneider wurde 1969 in Rheydt geboren. Sein Arbeitsschwerpunkt sind gebaute Räume. Für sein bislang bekanntestes Werk Totes Haus u r, wurde er im Jahre 2001 mit dem Goldenen Löwen der Biennale ausgezeichnet. Das Kürzel u r steht für Unterheydener Straße, Rheydt, aus der er ein Haus im Deutschen Pavillon nachbaute und dessen beklemmende Atmosphäre nachstellte. Im Januar 2021 installierte er während der COVID-19-Pandemie im Staatstheater Darmstadt einen Denkraum über den Tod, ein Sterbezimmer ohne Körper. Ausgestellt waren Kirschholzfurniere, Fischgrätenparkett und Marmorplatten über der Heizung. Mit dieser Ästhetik von Abschied wollte Schneider zu einer lebhaften Diskussion über den Tod und einem ehrlichen Umgang mit dem Tabuisierten beitragen. (Quelle: Wikipedia)

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Sterbende in den öffentlichen Raum holen

„Die Sterbenden und die Toten werden so in die Mitte der Stadtgesellschaft gestellt“, sagt Gregor Schneider, dessen Werk sich stark mit dem Abschiednehmen, verlassenen Räumen und dem Erinnern auseinandersetzt. Die Kunst habe aber schon immer „Brücken vom Leben zum Sterben geschlagen“. Jeweils mit den Mitteln ihrer Zeit, und die seien im 21. Jahrhundert nun einmal digital und würden „neue Kulturtechniken“ eröffnen, wie eben Avatare. Dabei stellt Schneider in der Gegenwart, „eine gewisse Ratlosigkeit im Umgang mit dem Sterben fest“ und sehr häufig ein großes Unverständnis, dass er sich in seiner Arbeit damit befasst.  Gleichzeitig spürt er „den großen Wunsch von ganz vielen, dieses Sterben gestalten zu wollen“, natürlich insbesondere bei Menschen, die um ihr nahendes Ende wissen.  

„Ars moriendi“ „versucht eine Annäherung an diese Fragen“, auf die Todkranke persönliche Antworten finden und in einem öffentlichen Raum ausdrücken. Größtenteils seien „die Teilnehmer und Teilnehmerinnen Menschen, die sehr offen und selbstbestimmt leben und sich schon sehr mit dem Tod auseinandergesetzt haben.“ Die Schwierigkeit bestehe darin, „Menschen zu finden, die das nicht machen oder machen können, z.B. Obdachlose“. Denn eigentlich wünscht sich Gregor Schneider, dass möglichst viele Verstorbene einen Erinnerungsort erhalten, an denen ihnen andere begegnen können.

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Das Verschwinden aus der Welt gestalten

Ein Gedanke, der auch Max Kronawitter umtreibt, der 2022 mit der Diagnose eines bösartigen Hirntumors aus der Klinik kam. „Die Traditionen, die früher den Abschied vom Leben getragen haben, lösen sich langsam auf, da ist das Digitale vielleicht eine Möglichkeit irgendwie Abschied von einem Menschen zu nehmen“, sagt der 63-jährige Theologe und Dokumentarfilmer, der auch ein Buch über seine Krankheit geschrieben hat. Es würden sich neue Formen der Ars moriendi entwickeln „und deswegen finde ich es interessant, bei Gregor Schneiders Projekt dabei zu sein.“ Es habe ihn darauf gestoßen, „wie das Verschwinden von der Welt heute gestaltet werden kann“. Die Idee, dass jemand, anstatt an sein Grab zu kommen, ihn stattdessen als Avatar besucht und ihm auf diese Weise begegnet, hat ihn „herausgefordert und gleichzeitig gefreut“. Wo sein digitales Ebenbild demnächst auftauchen wird, weiß er auch schon: An der Basilika Sankt Bonifaz, mit der ihn viel verbindet.

Andere Teilnehmer haben sich ein Museum ausgesucht, die Stelle, an dem sie sich in jemanden verliebt haben oder sogar das Gebäude, in dem sie gearbeitet haben. So unterschiedlich wie ihre Biografien, sind die Orte an denen sie eine Spur als Avatar hinterlassen wollen. Allen gemeinsam ist, dass sie etwas vom Knowhow ihres Lebens weitergeben und über das unvermeidliche Sterben nicht verdruckst schweigen oder oberflächlich hinwegreden wollen.

Die App „Ars Moriendi“ ist demnächst als kostenloser Download im Appstore oder im Google Play Store verfügbar.

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Alois Bierl
Artikel von Alois Bierl
Chefreporter
Beschäftigt sich mit wichtigen Trendthemen wie Spiritualität.