Wenn ich nachts nicht schlafen kann
Ein einfaches Ritual mit großer Wirkung: Wie Ines Schaberger den Tagesrückblick nutzt, um abends loslassen und einschlafen zu können.
Manchmal kann ich nachts nicht einschlafen. Ich drehe mich im Bett von der einen auf die andere Seite. Meine Gedanken rasen in meinem Kopf und ich finde keine Ruhe. Sie verfolgen mich bis in den Schlaf, die Bilder und Schlagzeilen der Nachrichten, die Schreckensmeldungen zu Naturkatastrophen, Gewalt und Krieg. Ich trage aber auch Sorgen in meinem Umfeld mit, die mich beschäftigen: Jemand hat eine Krebsdiagnose erhalten; muss mehrere Angestellte kündigen. Ein Paar hat gerade ihr Kind verloren. All dies hält mich nachts wach. Was mir meistens hilft, abends dann doch gut einschlafen zu können, ist ein sogenannter Tagesrückblick. Dabei lasse ich den Tag vor meinem inneren Auge vorbeiziehen, Stunde um Stunde um Stunde. Auf alles, was schön war, was mein Herz erfüllt, blicke ich mit Dankbarkeit zurück. Alles, was mich belastet, versuche ich loszulassen: Streit und Konflikte. Negative Schlagzeilen der Weltpolitik und schlechte Nachrichten aus meinem Umfeld. Sorgen und Ängste. Zwei Elemente dieses Rituals sind mir dabei besonders wichtig geworden:
1. Den Blick für das Gute schärfen
Leider fällt es den meisten Menschen nur allzu einfach, sich auf das Negative in ihrem Leben zu fokussieren – aus Sicht der Evolution macht das auch Sinn: Bei drohenden Gefahren muss man schnell reagieren können. Die Kehrseite davon ist, dass viele in ständiger Alarmbereitschaft leben und ausschließlich auf drohende Gefahren hin handeln. Durch den Tagesrückblick schärfen Menschen ihren Blick für das Gute und Schöne in ihrem Leben. Ich habe die Erfahrung gemacht: Wenn ich anfange, nach dem zu suchen, wofür ich dankbar bin oder was mir Hoffnung gibt,dann finde ich auch jeden Tag etwas. Das sind manchmal „nur“ Kleinigkeiten wie zum Beispiel, dass das Duschwasser warm oder im Schrank noch Kaffee ist. Als eine Variante des Tagesrückblicks führen manche Menschen auch ein Dankbarkeitstagebuch – das kann eine Notizen-App am Smartphone, ein schlichtes Heft oder ein edles Notizbuch sein. Jeden Tag gilt es, einen oder mehrere Punkte zu notieren, der Anlass zu Dankbarkeit gibt. Das weckt Dankbarkeit im Moment des Aufschreibens – und ebenso im Rückblick, wenn ich das Geschriebene später wieder lese und mich mit einem Lächeln zurückerinnere.
Über mehrere Wochen oder Monate geführt, kann ich anhand eines Dankbarkeitstagebuches auch entdecken, was mir im Leben besonders wichtig ist.
Bei mir sind es beispielsweise tiefgehende Gespräche, Natur-Erlebnisse wie beim Pilgern sowie die Erfahrung, Menschen um mich zu haben, denen ich vertrauen kann.
2. Ein Zeichen gegen das Verdrängen
Die positiven Momente eines Tages dankbar vor dem inneren Auge vorbeiziehen zu lassen, mag vielen Menschen einleuchtend erscheinen. „Aber warum denn auch die negativen? Was soll denn das bringen?“, denken Sie vielleicht. Für mich ist der Tagesrückblick ein wichtiges Zeichen gegen das Verdrängen. Er hilft mir dabei, das Geschehene zu verarbeiten und auch Negatives nicht unter den Teppich zu kehren – früher oder später würde ich ohnehin nur darüber stolpern. Alles hat seinen Platz, auch Trauer, Wut, innere Unruhe oder Hilflosigkeit. Ich nehme mir Zeit, diese Emotionen wahrzunehmen und ihnen zuzuhören, denn meistens haben sie eine wichtige Funktion. Manchmal schreibe ich meine Zweifel oder meine Fragen auch auf, denn Schreiben hilft ebenfalls beim Verarbeiten. Paradoxerweise werden meine Sorgen nicht größer, wenn ich die negativen Aspekte meines Tages betrachte. Natürlich nervt es mich manchmal, wenn ich auf meinen Tag zurückblicken möchte und mir zunächst nur die negativen Schlagzeilen oder Enttäuschungen aus meinem Alltag auffallen. Dann bemühe ich mich, zu Beginn und zum Schluss meines Tagesrückblicks etwas Positives zu finden. Doch dabei bleibe ich nicht stehen.
Was der Tagesrückblick verändern kann
Ich stelle mir vor, wie ich meinen Tag – all das Gute und das Schlechte, allen Dank und alle Sorgen – in Gottes Hände lege und damit loslasse. Die Sorge um unsere Welt und um mein persönliches Umfeld muss ich für diese Nacht nicht alleine mittragen. „Werft all eure Sorgen auf Gott, denn er kümmert sich um euch“, so lautet eine Ermutigung in der Bibel, im 1. Petrusbrief. Als Schülerin habe ich – wie die meisten Kinder – das wortwörtlich verstanden und für sehr konkrete Anliegen gebetet:
- Dass die Aufgaben des Mathematik-Tests einfach ausfallen mögen.
- Dass ich gute Freundinnen finde.
- Oder dass kein Kind dieser Welt mehr leiden muss.
Diese Art von Gebeten hören viele Menschen auf, wenn sie erwachsen werden. Auch ich stelle mir Gott nicht mehr als Zauberfee vor, die mir drei Wünsche erfüllt. Und trotzdem bitte ich weiterhin: um Zuversicht, Weisheit, Geduld. Denn das Gebet verändert Wirklichkeit: Nicht so, dass Menschen morgens aufwachen, und alles, was sie belastet, wäre vorüber.
Aber das Gebet verändert die Person, die betet. Mir hilft es, einschlafen zu können, weil ich weiß: Ich trage meine Sorgen und die Sorgen dieser Welt nicht alleine. Ich darf meine Angst loslassen.
Zum Abschluss meines Tagesrückblicks, wenn ich Stunde um Stunde vor meinem inneren Auge vorbeiziehen habe lassen und mir vorgestellt habe, wie ich alles in Gottes Hände lege, bitte ich um Gottes Segen. Manche Menschen beten auch ein Vaterunser oder machen ein Kreuzzeichen, je nachdem, was sich für sie stimmig anfühlt.
Der Tagesrückblick geht auf Ignatius von Loyola, den Gründer des Jesuitenordens zurück. Der ignatianische Tagesrückblick besteht aus folgenden Schritten:
Still werden.
Den Atem spüren.
Mich in Gottes Gegenwart stellen.
Gott um einen ehrlichen Blick bitten.
Auf den Tag schauen.
Verweilen, wo ich angesprochen bin.
Dank für Alles, was gut war.
Bitte um Verzeihung für alles Ungute.
Meine Pläne für Morgen Gott anvertrauen.
Vater Unser beten.
Amen.
Am nächsten Morgen wache ich auf, idealerweise ausgeruht und gestärkt für den Tag. Vielleicht mit einer Idee, was ich selbst tun kann, um diese Welt ein Stück besser zu machen: Ich könnte zum Beispiel…
- einer Freundin meine Hilfe anbieten
- mich freiwillig engagieren
- mich über ein weltpolitisches Thema, das mich beschäftigt, besser informieren
- kritische Fragen stellen
- Einfluss nehmen, wo ich kann, zum Beispiel eine Partei wählen, die meinen Werten entspricht und bei Politikern und Entscheidungsträgerinnen nachhaken
- spenden – je nach meinen Möglichkeiten
Und wenn der Tagesrückblick und das Gebet nur helfen, geduldiger und friedvoller mit meinem Umfeld oder mit mir selbst umzugehen, dann ist schon ein kleines Wunder geschehen.