Ich sammle Gründe für Hoffnung: ein Selbstversuch
In den letzten Monaten ist mir die Hoffnung abhandengekommen. Irgendwo zwischen den Schlagzeilen zu Krieg und Klimawandel, unserem Kinderwunsch und dem Tod meines Opas ging sie mir verloren. Doch ich will sie wiederfinden.

Lustlos gehe ich die breite Einkaufsstraße entlang. Laut Google Maps bin ich noch lange nicht dort, wo ich sein will. Da stolpere ich über zwei Frauen, die vor mir die Tür zu einem Geschäft aufmachen und hineingehen: ein Pflanzenladen. Dem Duft nach zu urteilen, gibt es hier auch Kaffee. Oh, und Bücher. Schnell husche ich hinterher.
Mit einem Hafermilch-Cappuccino in der Hand und einer Geigenfeige, die mir ihre Blätter über den Rücken streicht, blättere ich durch das erste Buch, das mir hier begegnet ist. „Reasons to be hopeful“ (Gründe, hoffnungsvoll zu sein) heißt das himmelblaue Büchlein, das die philosophische sogenannte „School of Life London“ herausgegeben hat.
Argumente optimistisch in die Zukunft zu blicken
Die darin enthaltenen Essays sammeln Argumente dafür, trotz aller Herausforderungen hoffnungsvoll und optimistisch in die Zukunft zu blicken:
- weil wir uns an Sommertagen und dem Licht der Morgendämmerung erfreuen können
- weil wir nicht allein in unserem Leiden sind
- weil wir nie weit weg von einem Stück Kuchen oder einem warmen Vollbad entfernt sind
- und weil wir keine Perfektion benötigen, damit sich Dinge „genug“ anfühlen.
Bei den Bildern eines Malers, der zuvor im Kriegsdienst gewesen war, verweile ich. Dieser Mann kannte Schmerz, Gewalt und Trauma. Und dann entscheidet er sich ausgerechnet dazu, Stillleben zu malen: Pflanzen. Obst. Frauen, die versunken vor dem Fenster sitzen und an einer Stickerei arbeiten, lesen oder schreiben. Sie wirken zufrieden und zuversichtlich.
Verdrängt dieser kriegsversehrte Maler seine schmerzhaften Erfahrungen bloß? Oder ist seine Malerei ein Ausdruck dafür, dass er sich dazu entscheidet, an das Gute in der Welt zu glauben, trotz allem? Ich deute seine Hoffnung als einen politischen Akt und als eine Entscheidung.
Ich beschließe, ab sofort jeden Tag einen Grund für Hoffnung zu finden und – damit ich den Vorsatz für meinen Selbstversuch nicht beim Verlassen des Cafés wieder verwerfe – auf Instagram zu dokumentieren.
Drei Dinge fallen mir bei meinem Selbstversuch auf
1. Leben und Licht schenken mir Hoffnung
Überraschend viele meiner Gründe für Hoffnung haben mit neuem Leben zu tun:
- Zaghaft brechen erste Knospen auf und der Marillenbaum beginnt zu blühen.
- Meine totgeglaubte Zimmerpflanze macht nach Monaten wieder ein neues Blatt!
- Ein Strauß Tulpen bringt Farbe in mein Home-Office.
- Ich halte das neugeborene Baby einer Freundin in den Armen.
Einige meiner Gründe für Hoffnung haben mit Licht zu tun:
- Sanft scheinen Sonnenstrahlen durchs Fenster und wärmen mich am Morgen, während ich Kaffee trinke.
- Beim Inlineskaten muss ich zum ersten Mal in der Saison eine Sonnenbrille tragen, weil das Licht so hell ist.
- Das Licht der Osterkerze erhellt die stockdunkle Kirche in der Osternacht – und langsam verdrängt das Licht, das ausgehend von der Osterkerze an alle weitergegeben wird, die Dunkelheit.
Leben und Licht nähren also immer wieder mein Vertrauen in eine lebendige, helle Zukunft.
2. Menschen machen Hoffnung
Ob es ein Frühstück mit lieben Freundinnen ist, ein Brunch mit ehemaligen Studienkolleginnen und Studienkollegen oder Kaffee und Kuchen bei den Großeltern: Ich merke, wie Menschen mir Hoffnung machen. Durch die Gespräche komme ich auf neue Gedanken, ich spüre, dass ich mit meinen Sorgen, Sehnsüchten und Schmerzen nicht alleine bin – und ich muss immer wieder herzhaft lachen. Alles Gründe für Hoffnung.
Es sind vor allem diese Begegnungen, von denen ich länger zehre und an die ich auch fünf oder zehn Tage danach immer wieder dankbar denke. Besonders an die Gespräche und Umarmungen nach einer Beerdigung erinnere ich mich: Mitten im Schmerz und in der Trauer war auch Platz für Hoffnung und Freude über das Wiedersehen.
3. Tage ohne Hoffnung
Im Laufe meines Selbstversuchs wird mein Blick für Hoffnungsmomente geschulter. Immer häufiger fallen mir wunderschöne Kleinigkeiten auf, oft mehrmals am Tag. Ich liebe diese Augenblicke und meine achtsamere Wahrnehmung. Doch an manchen Tagen kann ich keinen Grund für Hoffnung finden. Ich bemühe mich, aber ich finde einfach: nichts! Meine totgeglaubte Zimmerpflanze mit dem neuen Blatt bekommt Blattläuse. Meine Tulpen verblühen. Die Sonnenstrahlen verstecken sich hinter Saharastaub. Eine Freundin sagt ein Treffen kurzfristig ab. Am liebsten würde ich morgens im Bett liegen bleiben. Ich arbeite meine To Do-Liste ab, aber alles erscheint mir grau. Beim Blick auf die Schlagzeilen wird mir schlecht. Gestresst versuche ich einen Grund für Hoffnung, wenigstens einen einzigen Grund, zu finden, den ich auf Instagram posten kann. Ich bereue, meinen Selbstversuch so öffentlich angelegt zu haben und leide unter meinem selbstgemachten Druck, mich auf Social Media hoffnungsvoll präsentieren zu müssen.
Aber immerhin
Ausgerechnet an einem dieser Tage schickt mir meine Cousine ein Zitat auf Instagram: Darin geht es um die sogenannten „Immerhin-Tage“. Barbara Pachl-Eberhart, die Autorin des Buches „Vier Minus Drei“, in dem sie über den tragischen Verlust ihres Mannes und ihrer zwei Kinder schreibt, spricht darin von Tagen, die sie schlecht nennen könnte. Sie entscheide sich jedoch dazu, diese „Immerhin-Tage“ zu nennen. Immerhin sei das Duschwasser warm. Immerhin schütte es nicht. Immerhin befinde sich im Schrank noch Kaffee.
Immerhin. Ein kleines Wort, das für mich zu einem Hoffnungsanker wird. Denn immerhin lerne ich durch die „Keine Hoffnung“-Tage die Momente, in denen ich Hoffnung finde, viel mehr zu schätzen.
Mein Selbstversuch wird also fortgeführt. Nicht mehr auf Instagram, aber für mich ganz persönlich. Vielleicht gehe ich wieder in das Café, das mich zu meinem Experiment verleitet hat: Denn Pflanzen, Kaffee und Bücher – das wären gleich drei gute Gründe für Hoffnung, finde ich.