Glaubenswelten
21.11.2024


Zum 60. Todestag

Mit Gott geladene Batterien - die Mystiker von Madeleine Delbrêl

Madeleine Delbrêl entwickelte eine Spiritualität für einen weltoffenen Alltag. Sie sah Gott überall und rief dazu auf, die Liebe in jeder Lebenssituation zu leben.  Das versetzte sie in die Lage, eine Brückenbauerin zwischen Kirche und Gesellschaft zu sein, geprägt von Hoffnung und Zuversicht. Für Delbrêl-Expertin Annette Schleinzer eine zeitlose Botschaft, die Mut macht, in der derzeitigen Glaubens- und Kirchenkrise nicht zu resignieren.

Vor 60 Jahren gestorben: die Sozialarbeiterin, Poetin und Mystikerin Madeleine Delbrêl. Vor 60 Jahren gestorben: die Sozialarbeiterin, Poetin und Mystikerin Madeleine Delbrêl. Foto: © Association Les amis de Madeleine Delbrêl

Als Madeleine Delbrêl im Oktober 1964 unerwartet stirbt, hinterlässt sie auf den ersten Blick nicht viel: ein Buch, unveröffentlichte Texte und Manuskripte sowie einen Freundeskreis, der kaum über die Grenzen einer kirchlichen Minderheit hinaus geht. Und doch kann man rückblickend sagen, dass mit ihrem Tod die Ausstrahlung ihrer Botschaft begann.

Knapp zwanzig Jahre später wird Annette Schleinzer auf Madeleine Delbrêl aufmerksam. 1980 hat sie gerade ihr Theologiestudium an der Universität Freiburg abgeschlossen, als der damalige Theologie-Professor und spätere Bischof und Kardinal Karl Lehmann ihr das Buch „Gebet in einem weltlichen Leben“ von Madeleine Delbrêl in die Hand drückt. „Lehmann hielt Delbrêl für eine der größten geistigen Gestalten unserer Zeit“, erzählt Schleinzer. Sie sollte das Buch lesen und sich überlegen, ob sie darüber nicht ihre Doktorarbeit schreiben wolle. Schließlich lässt sich die junge Theologin darauf ein, „obwohl ich damals noch nichts von Madeleine Delbrêl verstanden habe, weil es mir sehr gewaltig erschien“. Seitdem lässt sie die Französin nicht mehr los, Delbrêl wird Schleinzers Lebensthema.


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Madeleine Delbrêl
Madeleine Delbrêl wurde 1904 geboren. Zunächst atheistisch geprägt, wandte sie sich durch Begegnungen mit Gläubigen dem Christentum zu. Nach einer inneren Bekehrung im Jahr 1924 entschied sie sich für ein Leben mitten in der Welt und wurde Sozialarbeiterin.

1933 zog sie nach Ivry, einer kommunistisch regierten Stadt im Süden von Paris, und engagierte sich für Arbeiter, ohne jedoch der Kommunistischen Partei beizutreten. Ihre vermittelnde Haltung im Konflikt um die Arbeiterpriester prägte die französische Kirche.

1964 starb sie überraschend an einem Schlaganfall. Ihre Schriften zu Gebet, Glaube und Gemeinschaft in einer Welt ohne Gott wurden in über acht Sprachen übersetzt. Delbrêl wird heute den Vordenkern des Zweiten Vatikanischen Konzils zugerechnet. 1993 wurde das Seligsprechungsverfahren für die moderne Mystikerin eröffnet.

Madeleine Delbrêls Botschaft der Liebe im Hier und Jetzt

Es sei die alltagstaugliche, weltoffene Spiritualität, die Delbrêl so faszinierend mache in einer Zeit, in der die Kirche gemerkt habe, dass sie sich wandeln muss, um die Menschen zu erreichen. Ein wichtiges Fundament ihrer Erkenntnis:

„Es gibt keine Trennung zwischen geistig und weltlich, dass eben nicht nur diejenigen, die die Welt verlassen, die Geistlichen sind, und die anderen sind die Laien, die Weltlichen, sondern es gibt nur diese eine Berufung für alle, egal in welcher Lebensform: die Liebe im Alltag zu leben“.

Daraus ergebe sich für Delbrêl, dass Gott nicht nur sonntags im Gottesdienst in der Kirche zu finden sei, sondern überall im Alltag, in den Begegnungen mit den Menschen, „in allen Ereignissen ist Gott zu finden“. Für das geistliche Leben sei diese Haltung natürlich eine Herausforderung. Deshalb habe Delbrêl viel darüber nachgedacht, wie geistliches Leben in einer Alltagssituation geht, die dafür wenig Raum und Zeit lässt. Hierfür habe sie viele kreative Bilder geprägt wie „Zeit-Teilchen“. Dahinter verbergen sich kleine Momente von Unterbrechungen, um innerlich Kurs auf Gott zu nehmen. Diese „Räume der Gottverbundenheit“ würden möglich, „weil Gott immer und überall ist“. Dieses „Gegenwärtig-Werden“ habe Delbrêl umgetrieben. Das Leben mit Gott sei nicht nur etwas für Spezialisten oder Exerzitien-Zeiten, sondern „diese Beziehung zu Gott ist immer möglich“.

Hierzu habe Delbrêl „wunderschöne Gedichte und Meditationen“ geschrieben wie „Fahrrad-Spiritualität“, „Liturgie der Außenseiter“ oder der „Ball des Gehorsams“:

„Bei jeder Art von Arbeit tanze ich einen Tanz des Gehorsams, bei der Nachtwache, beim Kochen, in der Hitze, in der Kälte, es ist immer möglich“.

Aus dieser mystischen Spiritualität schöpft Delbrêl die Kraft für die Prüfungen, die ihr Leben im kommunistisch geprägten Arbeitermilieu in Ivry mit sich bringt. Delbrêl ist Sozialarbeiterin und lässt sich nach dem Zweiten Weltkrieg von der kommunistischen Stadtverwaltung anstellen. Dadurch habe man sie in der Kirche verdächtig, selbst Kommunistin zu sein, „während die Kommunisten es bedauerten, dass sie nicht in die Partei eintrat, und sie fremd blieb, weil sie zur Kirche gehörte“. Nicht nur hier saß sie zwischen allen Stühlen. Delbrêl leidet sehr darunter, als in den fünfziger Jahren die Bewegung der Arbeiter-Priester von Rom verboten wird. Sie sei in den vierziger Jahren die Frau der ersten Stunde dieser Bewegung gewesen, erklärt Schleinzer. „Sie war eng verwoben mit diesem Experiment und hat es sehr unterstützt“. Vordergründig scheitern ihre Vermittlungsbemühungen zwischen den Bischöfen und der Bewegung zunächst. Dass die Arbeiter-Priester später mit der Auflage, dass sie nicht Vollzeit arbeiten dürfen, wieder zugelassen werden, sei auch Delbrêls Verdienst gewesen. „Für sie war es in dieser spannungsreichen Situation wichtig, den Dialog in alle Richtungen zu suchen und den Priestern beizustehen, die daran zerbrochen sind, weil sie exkommuniziert wurden“.

Annette Schleinzer ist eine gefragte Referentin zu Leben und Werk von Madeleine Delbrêl. Annette Schleinzer ist eine gefragte Referentin zu Leben und Werk von Madeleine Delbrêl. Foto: © Stadtkirche Dortmund

Hoffnung als Auftrag für eine Welt im Wandel

Madeleine Delbrêl konnte sich auf diese Konflikte einlassen, so Schleinzer, weil sie fest im „Heute“ verankert gewesen sei. Sie habe ihre Gesprächspartner immer dazu ermutigt zu unterscheiden: „Was ist unverzichtbar an der Botschaft Jesu, und was ist wandelbar“. Sie plädierte dafür, sich auf die heutige Welt einzulassen, „zu schauen, wo könnte da der Geist Gottes am Werk sein, nicht einfach nur Strukturen und Gewohnheiten zu bewahren“. Dieses Ringen um Erneuerung soll angstfrei geschehen. An die Stelle der Angst trete bei Delbrêl die Zuversicht. Es gebe Hoffnung, weil Gott existiert, weil dieser Gott ein Interesse habe, weiterhin in dieser Welt anzukommen.

„Und wir sind wie Batterien, die mit Gott geladen sind, um ihn in die Welt zu bringen“.

Madeleine Delbrêl sei solch ein Transformator gewesen. Sie habe versucht, „mit einer Kinderschaufel Löcher in den trockenen Sand der großen Wüste menschlichen Elends zu graben, um unversiegliche Quellen aufsprudeln zu lassen: das Geschäft der Hoffnung“, wie es eine Freundin Delbrêls einmal zusammenfassend formuliert hat. Von dieser Einstellung könne auch die um Synodalität ringende Kirche unserer Tage profitieren, findet Anette Schleinzer:

„Unbeirrt und voller Hoffnung Gott einen Ort mitten in den Krisen der Kirche und der Welt sichern, ohne plump zu missionieren oder zu resignieren, so dass der Geist Gottes am Werk sein kann, dafür ist Madeleine Delbrêl eine Zeugin“.
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Delbrêl, Madeleine Du lebtest, und ich wusste es nicht
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Paul Hasel
Artikel von Paul Hasel
Redakteur, Channel-Management