Kann man menschenwürdig leiden?
Mitten in der Verfolgung entdeckt die holländische Jüdin Etty Hillesum ihren Glauben an Gott. Ihre Erfahrungen mit Gott helfen ihr, das eigene Leiden und das der anderen anzunehmen.

Kann man frohen Herzens, mit einem Lied auf den Lippen, einen Zug besteigen, von dem man weiß, dass er in das Vernichtungslager Auschwitz fährt, wo einen der sichere Tod erwartet? Ja, man kann. Oder besser gesagt: Etty Hillesum konnte diese auf den ersten Blick übermenschliche Haltung einnehmen. Wie sie ihre Abfahrt aus dem niederländischen Hauptdurchgangslager Westerbork erlebt hat, schildert sie auf einer Postkarte, die sie aus dem fahrenden Zug wirft. Bauern fanden die auf den 7. September 1943 datierte Karte am Gleis und schickten sie an die Adressatin, eine Freundin Hillesums. „Wir haben dieses Lager singend verlassen, Vater und Mutter sehr tapfer und ruhig, Mischa ebenso“, heißt es auf der Karte. Wie kommt es, dass die 29-jährige Jüdin aus Amsterdam dem Tod so gelassen ins Auge blicken, ihren Eltern und dem Bruder eine Stütze sein kann? Die Antwort finden wir in den Tagebüchern, die Hillesum von März 1941 bis Oktober 1942 verfasst hat.
Der westliche Mensch will nicht mehr leiden
Sie hat ihre täglichen Aufzeichnungen von Anfang an in einem Versteck deponiert, weil sie damit gerechnet hat, den Holocaust nicht zu überleben. In ihren Tagebüchern begibt sich Hillesum auf eine radikale Selbstsuche, die sie mit der Suche nach Gott verbindet. Dabei lernt sie auch, zu beten, in sich hineinzuhorchen, zu meditieren. Das hilft ihr, nicht nur ihr eigenes Leid, sondern auch das der anderen annehmen zu können. In ihren Tagebuchaufzeichnungen stellt sie fest, dass der westliche Mensch zu leiden verlernt hat, weil er das Leid aus seinem Leben verbannen möchte und es nicht als Teil dieses Lebens annimmt. „Ich verschließe mich nicht vor all dem Leiden um mich. Ich stumpfe nicht dagegen ab“, schreibt sie im Frühjahr 1942. Bis dahin ist es allerdings ein längerer geistiger Weg mit vielen Höhen und Tiefen.
Wir müssen Gott in uns selbst suchen
Ein erster Höhepunkt ihrer Begegnung mit Gott findet sich im Eintrag vom 26. August 1941. „In mir gibt es einen ganz tiefen Brunnen. Und darin ist Gott. Manchmal ist er für mich erreichbar. Aber oft liegen Steine und Geröll auf dem Brunnen und dann ist Gott begraben. Dann muss er wieder ausgegraben werden. Ich stelle mir vor, dass es Menschen gibt, die beim Beten die Augen zum Himmel erheben. Sie suchen Gott außerhalb ihrer selbst. Es gibt auch andere, die den Kopf senken und in den Händen verbergen; ich glaube, diese Menschen suchen Gott in sich selbst.“
Indem wir Gott helfen, entsteht Mitmenschlichkeit
Aus der Tatsache, dass Gott in ihr wohnt, formuliert Hillesum schließlich den Anspruch, dass Gott nicht ihr, sondern sie Gott helfen müsse, in seinem Sinn die Welt zu gestalten. Dieses mystische Gott-in-sich-Tragen gibt ihr nun die Kraft, ihre Situation als verfolgte Jüdin, die eigentlich noch so viel vorhatte im Leben, anzunehmen. Freunde bieten ihr an, sie bis zum Kriegsende zu verstecken. Hillesum lehnt ab. Sie meldet sich vielmehr als Mitarbeiterin für das Durchgangslager Westerbork. Täglich pendelt sie zwischen ihrer Wohnung und dem Leben im Lager. „Ich bin bei den Hungernden, bei den Misshandelten und Sterbenden, jeden Tag bin ich dort, aber ich bin auch hier bei dem Jasmin und dem Stück Himmel vor meinem Fenster, in einem einzigen Leben ist für alles Platz. Für den Glauben an Gott und für einen elenden Untergang.“
Im Lager sieht Hillesum das Leiden der Menschen, dass ihr menschenunwürdig erscheint. „Das ist kein Leben mehr, wie die meisten Menschen leben: in Angst, Resignation, Verbitterung, Hass, Verzweiflung.“ Sie selbst möchte, wie sie es nennt, menschenwürdig leiden. „Für mich bedeutet Ergebung nicht Resignation oder Entsagung, sondern den Versuch, nach besten Kräften dort zu helfen, wo Gott mich zufällig hinstellt, und mich nicht nur dem eigenen Kummer und Ärger hinzugeben.“ Hillesums Denken verwandelte sich so über viele Monate hinweg in eine Praxis der Solidarität und Mitmenschlichkeit im Lager.
„Dieses Leben ist auf unerhörte Weise in Gott lebendig gewesen“, heißt es in einer Rezension über Hillesums Tagebücher und Briefe, die im vergangenen Jahr zum ersten Mal vollständig in deutscher Sprache erschienen sind. Das dürfte schließlich auch der Grund für die Gelassenheit gewesen sein, mit der Hillesum den Güterwaggon nach Auschwitz bestiegen hat. Die Ankunft im Vernichtungslager hat sie nicht lange überlebt. Ihre Ermordung datiert das Rote Kreuz auf den 30. November 1943.