"Der letzte Garant der Freiheit ist Gott"
Für Kardinal Reinhard Marx ist Freiheit mehr als ein politisches Schlagwort – sie ist das zentrale Thema seines theologischen Denkens. Im Interview spricht er über ihre Wurzeln im christlichen Glauben, über die Entwicklung der Kirche zur Verteidigerin von Freiheitsrechten und darüber, warum Freiheit immer auch Verantwortung bedeutet.

Herr Kardinal, sind Sie ein freier Mensch?
Ja, das denke ich. Manche, die mich über viele Jahre kennen, sagen: „Sie sind eigentlich immer freier geworden.“ Ich habe das als guten Prozess erlebt. Er gehört zur Entwicklung eines Menschen wie das Erwachsenwerden. Es sind viele Phasen, Schritte über ein ganzes Leben hin: Mit 18 kann man zum Beispiel wählen, den Führerschein machen. Das sind äußere Zeichen einer größeren Befreiung. Man fängt allmählich an, freier zu denken und andere Möglichkeiten zu sehen. Ich habe für mich den Eindruck, dass ich Schritt für Schritt im Denken und in meinem Leben immer freier geworden bin.
Aber als Priester haben Sie bei Ihrer Weihe den Zölibat und sogar Gehorsam versprochen. Sind das nicht deutliche Einschränkungen der eigenen Freiheit?
Das war doch ein freier Entschluss aus einer freien Entscheidung. Das Leben besteht aus Entscheidungen, die zugleich bindend sind. Wir sind nicht allein auf der Welt. Freiheit ist immer eine gebundene, eine verantwortliche Freiheit. Sie ist nur möglich im Zusammenhang mit anderen Menschen. Eine Beziehung, ein Arbeitsvertrag oder auch ein Gespräch, in dem ich jemandem vertraue – das sind immer Schritte in Freiheit, die im selben Moment zu Bindung und Übernahme von Verantwortung führen. Als Christen ist für uns der Höhepunkt, also das, was das Leben ganz glücklich macht, die Liebe. Aber die Liebe setzt die Freiheit voraus. In Freiheit entscheide ich mich. Ich binde mich aber dann für immer, wenn ich das Wort ausspreche „Ich liebe Christus“ oder „Ich liebe meine Frau oder meinen Mann“. Dieses Wort kann man nicht einfach so zurücknehmen. Wenn man es tut, ist es Zeichen einer tiefen Krise.
Bindung widerspricht also nicht der Freiheit?
Freiheit bedeutet nach christlichem Verständnis nicht Ungebundenheit oder dass ich jeden Tag tun und lassen kann, was ich will. Es ist ein Denkfehler unserer Zeit, wenn wir ausschließlich immer nur vom Einzelnen ausgehen. Sicher ist es sinnvoll, vom Individuum auszugehen etwa bei den Menschenrechten. Aber in der christlichen Vorstellung vom Menschen gibt es das Individuum nur im Zusammenhang mit anderen. Es gibt nicht nur einen einzigen Menschen auf der Welt. Schon damit ein Mensch entsteht, braucht es zwei Menschen.
Was bedeutet Ihnen denn Freiheit? Was empfinden Sie als Freiheit?
Nicht gefangen zu sein, nicht unterdrückt zu sein, frei zu denken, anderen Menschen zu begegnen. Dass mir kein anderer ständig sagt, was ich zu tun habe. Freiheit ist die Grundlage der Menschenwürde. Der Mensch ist Bild Gottes, eines Gottes, der frei ist. Die Freiheit ist ein Geschenk. Nicht etwas, was wir verdient hätten, was wir erkaufen oder erkämpfen, sondern was gegeben ist und uns auch letztlich niemand nehmen kann. Das berühmte Lied „Die Gedanken sind frei“ kennen wir alle. Diktaturen schränken die Freiheit ein. Aber diese innere Freiheit, dass ich ein von Gott geschaffener Mensch bin, der zur Freiheit berufen ist, kann mir niemand nehmen.
Als bischöfliches Leitwort haben Sie den Satz gewählt: „Wo der Geist des Herrn wirkt, ist Freiheit“. Warum?
Ich saß im Garten des Priesterseminars in Paderborn, nachdem der Erzbischof mich informiert hatte, dass ich Weihbischof werde. Da ging mir dieser Satz sofort durch den Kopf. Er hat mich immer angesprochen und begeistert. Ich habe immer ein wenig darunter gelitten, dass die gesamte Freiheitsgeschichte in Europa, im Westen, gegen die Kirche erzählt wird. Als habe die Freiheitsgeschichte mit dem Christentum und der katholischen Kirche wenig zu tun. Das ist eine völlig falsche Interpretation der ganzen biblischen Botschaft.
Warum?
Im Kern der Bibel geht es um Freiheitserzählungen. Der Exodus aus dem Sklavenhaus in Ägypten ist eine Freiheitsgeschichte. Paulus knüpft daran an und benutzt eben diese Worte meines Leitspruches, dass die Schöpfung zu ihrem Ursprung zurückgeführt wird durch das, was Christus getan hat, und dass wir unsere Würde wiederfinden. Freiheit ist nicht etwas, was gegen die Kirche oder gegen das Evangelium erkämpft wird. Im Gegenteil. Der Geist Gottes führt nicht in die Unterwerfung, sondern in die Freiheit und die Liebe.
Dass die Geschichte der Freiheit oft gegen die Kirche erzählt wird, ist doch kein Wunder. Die Kirche hat lange gebraucht, um Religions- und Gewissensfreiheit anzuerkennen. Gibt es in der Kirche heute noch eine Skepsis gegenüber der menschlichen Freiheit?
Das ist sicher der Fall. Aber diese Skepsis bezieht sich meist auf eine falsch verstandene Freiheit, die rein als Ungebundenheit und individualistische Freiheit interpretiert wird. Das ist die Kritik und Skepsis mancher Theologen, auch mancher Päpste und Bischöfe. Der Kampf um die politischen Freiheitsrechte dagegen war eine emanzipatorische Bewegung, um sich von alten Ordnungen zu lösen, die gegen die Freiheit gerichtet waren. Das musste auch die Kirche lernen – und sie musste sich selbst verändern. Heute bekennt sie sich zur Demokratie und ihrer freiheitlichen Ordnung. Dennoch ist die Geschichte der Menschenrechte nicht zu erzählen ohne die Geschichte der Bibel und ohne die Geschichte der großen christlichen Erfahrung der Freiheit. Das Evangelium verkündet, dass Menschen eine Würde haben, auch gegenüber dem Kaiser, also dem Staat. Selbst im Mittelalter wurde damit klargemacht, dass der Staat Grenzen hat. Dein Gewissen, dein Inneres geht ihn nichts an.
Die Kirche hat oft ihre Rolle dabei übertrieben, Menschen Vorschriften gemacht und in ihre Gewissen hineinregiert. Papst Franziskus hat das kritisiert und geschrieben: „Wir sind berufen, das Gewissen zu bilden und nicht den Anspruch zu erheben, es zu ersetzen.“
Die Kirche hat vielleicht diese Freiheitsgeschichte zu wenig nach innen getragen. Einige in der Kirche meinen, die Wahrheit zu besitzen und anderen sagen zu müssen, was sie fühlen und denken sollen. Diese Debatte ist so alt wie die Kirche. Pharisäer gab es nicht nur zur Zeit Jesu, die gibt es immer wieder. In der Kirchengeschichte gab es viele Irrtümer und vieles, was nicht in Ordnung war. Aber darüber darf man nicht vergessen, dass das Evangelium ein wesentlicher Teil der Freiheitsgeschichte der Menschheit ist.
[inne]halten - das Magazin 12/2025

Geist der Freiheit
Für Kardinal Reinhard Marx ist Freiheit mehr als ein politisches Schlagwort - sie ist das zentrale Thema seines theologischen Denkens. Im Interview spricht er über ihre Wurzeln im chistlichen Glauben, über die Entwicklung der Kirche zur Verteidigerin von Freiheitsrechten und darüber, warum Freiheit immer auch Verantwortung bedeutet.
Lesen Sie im [inne]halten-Magazin unseren Themenschwerpunkt und weitere Geschichten und Berichte aus dem kirchlichen Leben.
Nach der Wahl des neuen Papstes Leo XIV. gibt es einige, die hoffen, dass nach der Spontaneität von Papst Franziskus wieder mehr Ordnung in die kirchliche Lehre kommt. Ist das nicht auch ein Kampf gegen die Freiheit in der Kirche?
Ich sehe das im Augenblick nicht. Ich sehe eine große Einmütigkeit, auch gerade bei den Diskussionen im Vorkonklave. Natürlich wollen einige Sicherheit. Das ist immer so. Das ist aber eher ein psychologisches Problem. Es gibt keine Sicherheit. Es gibt den Unterschied zwischen Sicherheit und Gewissheit. Wenn jemand sagt: „Ich liebe dich“, gibt das Gewissheit, aber nicht Sicherheit. Ich habe Papst Franziskus mal gesagt, eine Institution, die den anderen Menschen sagt, wie Gott über sie denkt, kann keine Zukunft haben und ist auch nicht im Geiste Jesu. Aber das kann auch nicht in Beliebigkeit umschlagen, bei der jeder seine eigene Idee für den lieben Gott hält. Wir müssen gemeinsam ringen.
Sie haben einmal gesagt, dass wir in einer Zeit leben, in der sich der Glaube erstmals unter den Bedingungen der Freiheit bewahren muss. Was heißt das?
Noch nie haben so viele Menschen in einer Demokratie gelebt, also in einer Kultur der Freiheit, in der jeder seinen Weg gehen kann, was zum Beispiel Religion, Partner- oder Berufswahl angeht. Noch eine Generation vor der meinigen waren bestimmte Schritte doch gar nicht möglich. Sich in Fragen der Religion ganz frei zu entscheiden, ohne Sanktionen fürchten zu müssen, ist ein großer Fortschritt und eine relativ neue Möglichkeit. Unter diesen Bedingungen muss das, was wir miteinander im Glauben feiern und erleben, überzeugend sein. Früher dagegen hatte es sich die Kirche in dieser Hinsicht oft leicht gemacht. Man sagte, wenn du sonntags nicht in die Kirche gehst, kommst du in die Hölle. Das ist zum Glück vorüber. Denn in diesem System gab es keine freie Entscheidung. Man machte vielleicht nur mit, um keine negativen Folgen zu erleben oder von anderen nicht schief angesehen zu werden.
Was muss die Kirche tun, um unter diesen Bedingungen die Menschen wieder zu erreichen?
Es ist eine falsche Haltung, wenn wir meinen, wir besäßen eine Wahrheit, die wir anderen nur beibringen müssten. Nein, vielmehr geht es um die Frage, wie die Kirche zu leben hat. Nämlich so, wie es vom Evangelium her vorgesehen ist. Das Leben feiern, das unzerstörbare Leben, das uns Gott schenkt. Die Kirche muss eine Gemeinschaft sein, in der freie Menschen zusammenkommen, Gottesdienst feiern und spüren, hier gibt es Hoffnung, Zuversicht und Aufbruch. Das ist zentral, sonst braucht man keine Kirche und keine Religion. Wenn man nicht wirklich spürt, hier ist eine Gemeinschaft, in der mein Leben aufgerichtet wird, wo ich Stärke erfahre, Rückenwind, Vergebung der Sünden, Versöhnung, Freude, Trost, Heil, Hoffnung in der Stunde meines Todes. Das muss lebendig gelebt werden. Wenn es so läuft, ergibt sich alles andere. Das schreibe ich auch in meinem neuen Buch „Kult“.
In Ihrem Buch „Freiheit“ machen Sie einen Unterschied zwischen dem kirchlichen und dem gesellschaftlichen Verständnis von Freiheit. Wie sieht dieser Unterschied aus?
Durch die Aufklärung ist eine Schieflage entstanden. Es gibt eine individualistische Verengung auf den Einzelnen und seine Rechte. Verantwortung und Gemeinschaft werden eher ausgeblendet. Das ist doch die aktuelle Diskussion: Was hält die Gesellschaft zusammen? Was verbindet uns? Wir sind keine Ansammlung von Menschen, die einzelne Rechte haben, sondern eine Gesellschaft mit Grundlagen, auf die sich in Freiheit alle miteinander verpflichten. Wenn ganze Gruppen dieses Fundament nicht mehr mittragen, gefährdet das die Demokratie. Das erleben wir im Augenblick. Wo die biblisch inspirierte Sicht der Freiheit wegfällt, wird es schwierig. Da fehlt etwas.
Was denn?
Es fehlt die Erkenntnis, dass Freiheit ein Geschenk und keine menschliche Leistung ist und dass Bindung auch über den Menschen hinausgeht. Wir erleben eine Gefährdung der Demokratie, weil dieser Zusammenhang nicht mehr gesehen wird. Wenn Gott wegfällt, entsteht eine Leerstelle. Die füllen andere: autoritäre Regime und Herrscher, Ideologien, die das Gemeinsame des Volkes, der Nation, der Ethnie, des Blutes, der Klasse überhöhen. Das ist die Zerstörung der Freiheit. Der letzte Garant der Freiheit des Menschen ist Gott und nicht der Mensch selbst.
Woher kommt dieser übertriebene Fokus auf die individuelle Freiheit?
Aus der Tradition der Aufklärung, die im Positiven zugleich vielen Menschen einen Weg der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit ermöglicht hat. Wir haben nun über Jahrzehnte sehr stark auf einzelne Gruppen geschaut, damit diese nicht diskriminiert werden. Es ging sehr stark um individuelle Freiheitsrechte, um Emanzipation und darum, dass alle ihre jeweiligen Rechte einfordern können. Das ist grundsätzlich völlig berechtigt. Aber es darf dabei nicht der Eindruck entstehen, als gehe es nur noch um Partikular- und Gruppeninteressen. Der Blick auf das Miteinander, auf die Gemeinschaft und Solidarität aller Menschen muss wieder stärker werden. Das ist meine Hoffnung, denn sonst wird unsere Demokratie Schwierigkeiten haben.
Was kann die Kirche dazu beitragen, diese Unwucht zu korrigieren?
Wir haben in unserem Menschenbild die richtige Linie. Zum Ausdruck kommt das in der Katholischen Soziallehre, auf deren Begründer Papst Leo XIII. sich unser neuer Papst ausdrücklich beruft. Das sollten wir in unseren Gemeinden und Gemeinschaften darstellen. Hier kommen Menschen aller Klassen und Gruppen, Sprachen und Kulturen zusammen. Das ist ein tragfähiges Menschenbild für alle.
Die US-Regierung wirft Europa vor, die Meinungsfreiheit einzuschränken. Bei uns sagen Rechtspopulisten, dass man nicht mehr alles sagen dürfe. Ist das eine berechtigte Kritik?
Das ist eine absurde Vorhaltung. Ich sehe nicht ein, warum man das Recht haben sollte, als Politiker oder Meinungsmacher öffentlich zu lügen.
Rechtspopulisten spielen sich als Kämpfer für die Freiheit, besonders für die Meinungsfreiheit auf …
Das ist doch verlogen. Sie wollen keinen Regierungswechsel, sie wollen einen Machtwechsel. Das ist ein Unterschied! Sobald sie an der Regierung sind, greifen sie Justiz und Medien an. Meinungsfreiheit bedeutet nicht, alles sagen zu können ohne Rücksicht auf die Fakten. Und Meinungsfreiheit bedeutet auch nicht, Menschen verleumden zu dürfen. Solche Entwicklungen gefährden die Freiheit. Setzen sich die durch, die am lautesten schreien? Die bereit sind zu lügen und keine Hemmungen kennen? Das erleben wir doch. Gerade bei der extremen Rechten habe ich den Eindruck, dass sie die Reputation der anderen zerstören wollen. Das hat nichts mit Freiheit zu tun.
Was können wir gegen solche Freiheitsbedrohungen tun?
Aktiv sein, am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, uns engagieren. Eine Demokratie lebt nur, indem Menschen mehr tun, als wozu sie verpflichtet sind. Es muss Menschen geben, die sich im Sportverein, in der Kommune, in der Pfarrei engagieren. Jeder muss sich selber überprüfen: „Tue ich auch etwas, damit es diese Freiheit und diese Kultur weiterhin gibt?“
Interview: Ulrich Waschki