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Glaubenswelten
06.06.2025

Die unsichtbare Wirklichkeit

Es sind alte Fragen der Menschheit: Wie viel Geist steckt in der Materie? Welcher Plan wohnt aller Existenz inne? Und was ist Schönheit? Eine persönliche Annäherung, vermittelt durch Naturerlebnisse und wissenschaftliche Erkenntnisse.
    

„Die schräg einfallende Sonne lässt ihre Strahlen auf den Tausenden kleiner Wellen brechen und tanzen.“ „Die schräg einfallende Sonne lässt ihre Strahlen auf den Tausenden kleiner Wellen brechen und tanzen.“ Foto: © imago/imagebroker

Es war auf dem Gipfel des Dschabal Katrina, des 2637 Meter hohen Katharinenbergs im Sinai. Die Sonne senkt sich gegen den Horizont, Wüste und Berge beginnen zu glühen. Eine erschöpfte kleine Pilgergruppe, die dem Weg von Moses vor dreieinhalb Jahrtausenden vom alten Ägypten ins Gelobte Land nachspüren will, hat sich bereit gemacht für eine weitere Nacht im Tausend-Sterne-Hotel. Die Schlafsäcke liegen bereits über die großen Felsbrocken verteilt neben den Rucksäcken mit Wasserflaschen. Das Abendmahl war eingenommen, im Kreis auf holprigem Grund sitzend mit Ziegenkäse und Tomaten zum dünnen Fladenbrot, das Beduinen unterwegs auf gefundenen Blechen gebacken haben.

Pater Remigius von St. Ottilien, mit bürgerlichem Namen Johann Rudmann, legt seine Stola um. Wir sammeln uns an der Nordflanke des Gipfels, wohin die Abendsonne von links ihre immer noch wärmenden Strahlen schickt und hinüberleuchtet zum Dschebel Musa, dem Mosesberg zur Rechten. Wir blicken auf unsere schon sechs Tage zurückliegende Strecke durch die Wüste und über das Panorama der rötlich-grauen Gebirgsspitzen, die sich in Ketten zwischen Streifen von Abenddunst aus den Schluchten hintereinander aufbauen. In eine glücklich-zufriedene Stimmung hinein spricht der Pater über unsere Erfahrungen und sagt ganz beiläufig zur wunderbaren Szenerie gegenüber: „Diese Schönheit ist nur sichtbares Zeichen einer unsichtbaren Wirklichkeit.“

Sichtbares Zeichen von etwas Unsichtbarem

Der so dahingesprochene Satz hat sich mir tief eingegraben, denn er stellte eine Verbindung her zu einem persönlichen Erlebnis und zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis. Von beidem erzähle ich gleich. Als wir ihm später eine Bank schenkten für den Klostergarten, eine Bank mit der Aufschrift „Die Schönheit der Natur ist sichtbares Zeichen einer unsichtbaren Wirklichkeit“, da fragte er mich: „Wo habt ihr denn den guten Spruch her?“   

Vielleicht kommt es von meiner Kindheit mit Bombennächten in München und Flucht aufs Land, in ein kleines Dorf. Dort bemerkten wir drei Buben gar nicht, wie karg das Leben eigentlich war. Freiheit pur mit den Bauernkindern in Ställen, Heuschobern, in Getreidemanderln, den zeltförmig zusammengestellten Korngarben, die kein Kind mehr kennt, beim Schafbockreiten über Kuhweiden, mit Kartoffelfeuern und auch hoch oben auf Ochsenkarren mit der Ernte drunter.
    

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Düfte, Klänge und Schönheit des Walds

Um Essen und Kochen hatte sich eine Städterfamilie im Krieg und gleich danach aber selbst zu kümmern. Mutter ging zum Hamstern und oft mit uns in die Wälder. Brombeeren, Heidelbeeren und Pilze sammelten wir und Tannenzapfen für den Ofen. Sie sprach uns immer wieder auf Düfte, Klänge und die Schönheit des Walds an. Das hat sich mir eingeprägt, so dass ich mich später immer wieder fragte, ob Schönheit nur im Auge des Betrachters liegt oder nicht doch etwas Objektives sei, und welche Bedeutung sie eigentlich für alles Lebendige hat.

Auch in meinen unterschiedlichen Studien von Recht, Sozial- und Geisteswissenschaften spielten diese Fragen immer wieder eine Rolle, auch weil es eine Schönheit gibt, die der Logik innewohnt, in der Sprache schwingt, auch in Musik und Rhythmen klingt. Als Wissenschaftsjournalist mit breitem Aufgabenfeld machte ich einige Sendungen dazu, ohne aber den Kern erfasst zu haben. Eine Antwort sollte sich erst später einstellen. Jedenfalls arbeitete die Frage nach der Funktion der Schönheit in mir bewusst und unterbewusst, weil auch viel Hässliches, was wir so in der Zivilisation geschehen lassen, sich von der Natur doch abhebt.

[inne]halten - das Magazin 12/2025

Geist der Freiheit

Für Kardinal Reinhard Marx ist Freiheit mehr als ein politisches Schlagwort - sie ist das zentrale Thema seines theologischen Denkens. Im Interview spricht er über ihre Wurzeln im chistlichen Glauben, über die Entwicklung der Kirche zur Verteidigerin von Freiheitsrechten und darüber, warum Freiheit immer auch Verantwortung bedeutet.

Lesen Sie im [inne]halten-Magazin unseren Themenschwerpunkt und weitere Geschichten und Berichte aus dem kirchlichen Leben.

Sonnenglanz, Sternenfunkeln, Meeresleuchten

Es war auf Capri, wo bekanntlich die rote Sonne im Meer versinkt … und von Boot zu Boot das alte Lied erklingt …, aber dort war es: bei meinem Freund, dem Münchner Kunstprofessor Hans Daucher, der in der berühmten Casa Malaparte dort während der Sommersemesterferien Kunstseminare durchführte. (Die Atmosphäre von kreativem Gestalten an der Leinwand, hand-werklicher Arbeit am Putz der Mauern, Schwerelosigkeit in den Wellen, Heranschaffen des Lebensnotwendigen auf Felspfaden im Duft harziger Pinien, dem Bereiten von Fischsuppe oder von Spaghetti und Sugo aus Zwiebeln, Hack und Rotwein, dieses „Zwischen“ von Sonnenglanz, Sternenfunkeln und Meeresleuchten, diese Mischung aus Tun und Verkosten, von einfach Da-Sein und Entrückung ist Leben, Genuss und Inspiration. Mich hat es geöffnet.)

Auf Capri also: Eines Spätnachmittags liege ich nach dem Schwimmen auf einem glatten Felsen nahe der Marina Piccola und denke einmal an gar nichts. Die schräg einfallende Sonne lässt ihre Strahlen auf den Tausenden kleiner Wellen brechen und tanzen. Da schießt auf einmal ein Gedankenblitz aus dem vibrierenden Licht des Meeres hoch. Und er hat einen Namen. Das war es. Das ist es. Die plötzliche Antwort nach so langer Suche.

Das Grundgesetz allen Werdens

Ein Begriff wie eine Goldmedaille mit „Schönheit“ als Vorderseite und „Anziehung“ als Rückseite. Und er umfasst alles, die ganze Welt. In einer Sekunde war das klar. Sofort kritzle ich mit einem Farbstift auf den Karton aus meiner Jackentasche dieses Schlüsselwort für Schönheit und für Anziehung: Attraktivität.  

Und sogleich setze ich davor einen weiteren Begriff. Denn jemand muss etwas schön finden. Genauso muss etwas von etwas anderem angezogen werden. Es ist die Polarität. Diese Wechselbeziehung aber muss erst entstanden sein, um zu existieren. Sie muss immer neu entstehen. Das große Geheimnis der Kreativität. Das Schlüsselwort der Künste, aber auch des Lebens und seiner Entstehung, ja das Stimulans aller Entwicklung. Es kommt sofort ganz vorne hin. 

Vom Atom bis zum Weltall

Da stehen nun drei Wörter wie Leuchtsignale, schaukeln wie Bojen im Ozean des Wissenswerten und doch Unergründlichen. Die strahlen so hell, dass da noch ein Begriff hinter den anderen drei zu stehen kommen muss. Es ist doch jeweils der Betrachter dabei. So steht gleich hinten ein viertes Wort hingekritzelt auf dem kleinen Malkarton, was auch der Lichterglitzerteppich des Meeres darstellt: die Reflexion. Das Spiegeln des Gegenstands der Betrachtung. Plötzlich ist dieser Gegenstand des Reflektierens die Entstehung von allem, das Universum vom Atom bis zum Weltall, vom vermeintlich toten Stein – „in einem Stein sind alle Wunder dieser Welt“ (Physik-Nobelpreisträger Gerd Binnig) – bis zur lebenden Zelle mit ihren in Anziehung verbundenen Gegenpolen der beiden DNA-Spiralen. Sofort wird transparent, dass damit das Grundgesetz allen Werdens erfasst ist.

Das war das persönliche Erlebnis, von dem ich vorhin erzählte. Es beschreibt das Grundgesetz der Natur. Es ist wie jedes Naturgesetz eine unsichtbare Wirklichkeit. Es ist eine Information, die allem zugrunde liegt, was ist und wird. Was Pater Remigius auf dem Katharinenberg als unsichtbare Wirklichkeit hinter allem Schönen ansprach, das war nicht weniger als der Schöpfer, der uns seine göttliche Natur zeigt. Oft haben wir es gehört und gelesen, was der Evangelist Johannes schrieb: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ Gott ist identisch mit seinem Schöpfungsauftrag, mit seinen eigenen Gesetzen, die der Welt ihre Prägung geben. Und diese Gesetze wirken überall, auch in uns. Da ist ER.

Information als Grundprinzip

Ich bin weder Physiker noch Theologe. Aber ich verstehe den klaren Satz des Evangelisten. Und von der Quantenphysik, die sich selbst noch nicht ganz erschlossen hat, verstehe ich eines ihrer mitgeteilten Ergebnisse sehr wohl. Das vielleicht wichtigste bringen Werner Heisenberg, Hans-Peter Dürr oder zuletzt der frische Physik-Nobelpreisträger Anton Zeilinger auf den Punkt: Information ist das Grundprinzip von allem. Zeilinger schreibt in „Einsteins Spuk“: „Wirklichkeit und Information können nicht getrennt werden.“ In seinen Vorträgen stellt er als Privatmann und nicht als Wissenschaftler fest, wie er betont: Für das, was im Johannesevangelium als Wort bezeichnet wird, kann ich auch Information sagen. Schlichte Information als Basis von allem?

Jetzt müssen wir noch tapferer sein. Ein weiteres Ergebnis der Quantenphysik ist, dass es Materie, wie wir sie verstehen, eigentlich gar nicht gibt. Denn die Teilchen im subatomaren Raum sind Wellen, die wir nur in Momentaufnahmen betrachten. Dürr nennt sie „Wirks“, weil diese allerkleinsten Informationen eben etwas bewirken, was wir als Gestalt erkennen. Was aber in der Realität (um das Wort „Wirklichkeit“ hier zu vermeiden) ein Beziehungsgefüge von Kräften ist. Einfach ausgedrückt: Die Information überall an der Basis des Allerkleinsten bestimmt, was aus ihm werden soll. Gestalt gewordene Information.

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Nicht alles ist zähl- und messbar

Da kommt mir der Dichter der Romantik Joseph von Eichendorff in den Sinn mit seinen Zeilen: „Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort. Und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort.“ Hat er nicht intuitiv schon vor zweihundert Jahren geahnt und gesagt, was die Naturwissenschaft heute erkennt? Wir alle haben Antennen, mit denen wir „Dinge“ erspüren können. Das Zauberwort darin wird uns nicht die Wissenschaft sagen können, denn es ist nicht alles zähl- und messbar. Wir müssen nur das Infogedudel rund um uns immer wieder ausblenden und auf uns selber hören. Wenn die Medien überall in ihrem Wettstreit um Aufmerksamkeit das psychische Weltklima aufheizen, müssen wir uns dagegen wappnen mit Besinnung auf das Wesentliche. Aber was ist das?

Schauen wir doch öfter vom Gipfel wie auf dem Katharinenberg! Von da sehen wir besser die Proportionen und die Zusammenhänge. Wir stecken in unseren Alltagspflichten wie die Forscher in ihren Spezialfragen. Mir war es ein Berufsleben lang gegönnt, die wissenschaftlichen Fachgebiete in ihren Verknüpfungen zu betrachten und zwei Jahrzehnte zur Akkreditierung neuer Studiengänge deren Inhalte zu bewerten und dabei Freiräume für Querverbindungen zu schaffen – übrigens auch in Kasachstan und in Russland vor dem Zugriff auf die Krim, denn beide Länder wollten ihre Abschlüsse nach den europäischen Maßstäben anerkannt bekommen. Trennungen zerreißen Zusammenhänge. Überblick hilft oft weiter als zu tiefer Einblick: Die „Dinge“ sind nicht losgelöst und auch die Menschen voneinander nicht.

Hoffnung auf Bewusstseinswandel

Die Ergebnisse der Quantenphysik, von denen noch viele zu erwarten sind, werden nach Meinung der Forschenden auf der Welt „einen Paradigmenwechsel“ – eine neue Weltbetrachtung – „auslösen, gewaltiger als die Kopernikanische Wende“, nach der wir uns nicht mehr im Zentrum des Alls sahen. Zeilinger: „Wir wissen nur noch nicht, in welche Richtung.“ Im Chaos der Gegenwart von Erderwärmung, Kriegen, Freiheitsverlust durch Autokratien und Diktaturen gibt es begründete Hoffnung, dass diese erwartete Wende ein globaler Bewusstseinswandel sein wird. Auch Denken ist unsichtbar und gestaltet doch.

Was ist das vorhin erkannte Attraktivitätsprinzip denn im Kern? Es ist die Neuordnung des Verhältnisses von uns Menschen zu unserer Erde. Sie ist unser einziges Raumschiff und wir müssen ein Team darin werden. Denn die Erde ist nur so lange für uns attraktiv, solange sie auch uns attraktiv findet. Was ist das Material der Münze Attraktivität, deren eine Seite die Schönheit und die andere die Anziehung ist? Doch letztlich Liebe.

Tilman Steiner