Fotografin, Nonne, Zeitzeugin: Schwester Elija Boßler über das Gedenken im Karmel Dachau
Seit fast sechs Jahrzehnten lebt Schwester Elija Boßler im Karmel Heilig Blut in Dachau, direkt neben dem ehemaligen Konzentrationslager. Als Fotografin porträtierte sie Überlebende bei deren dortigen Besuchen. Im Interview mit Innehalten.de gibt sie sich überzeugt: Historisch-dokumentarisches Gedenken allein reicht nicht – es braucht auch Gebet.

Sie sind dort zu Hause, wo bis vor 80 Jahren unvorstellbare Grausamkeit regierte – warum haben Sie sich für ein Leben auf dem Gelände eines KZs entschieden?
Als ich Januar 1965 aus dem elterlichen Textilgeschäft in Nordrhein-Westfalen nach München kam, fand ich eine gute Stelle in einer eleganten Modeboutique in der Residenzstraße. Mit einem Freund habe ich dann das ehemalige KZ und das gerade neu erbaute Kloster besucht – der wusste nicht, was er da bei mir auslöst. Damals war die Gedenkstätte zwar geplant, aber noch nicht fertig. Es war eine Baustelle. Im Krematorium gab es nur ein paar Fotos und eine Infotafel. Vertriebene und Flüchtlinge waren in den Baracken untergebracht. Aus der Schule hatte ich damals keine große Vorstellung vom National¬sozialismus. In meinem Leben ging es um Mode und die Welt. Aber als wir in dieser Kirche saßen, habe ich gespürt, dass es diesen Ort des Gebets an diesem Ort des Grauens braucht und dass er mich braucht. Ich kann nicht sagen, was es genau war, aber es hat bei mir so eingeschlagen, dass ich alle Zelte hinter mir abgebrochen habe und einige Monate später im Februar 1966 eingetreten bin. Da war ich 22 Jahre alt.
Wie hat ihr Umfeld darauf reagiert?
Die waren geschockt. Weniger, dass ich ins Kloster wollte – meine Familie war sehr religiös –, sondern dass ich in diesen Orden nach Dachau wollte. Mein Vater hat mich dann aber doch hergebracht und mich verabschiedet. Die strenge Klausur hat sich nach dem Konzil dann gelockert. Meine Eltern habe ich bei Besuchen zuerst nur durch Gitter gesehen. In den 70ern änderte man das. An diesem Ort mussten wir als Schwestern lernen, für Menschen im Gespräch da zu sein, zuzuhören, offen zu sein für die Nöte, besonders für die Besucher der Gedenkstätte, für die Überlebenden, ihre Angehörigen und ihre Fragen.
Viele Besucher wissen gar nicht, dass es hinter der Gedenkstätte noch weitergeht – was ist der Karmel, den man durch den nördlichen Wachturm betreten kann?
Es ist ein Ort mit einer Atmosphäre, die anders ist als die der Gedenkstätte, der aber trotzdem untrennbar mit dem Konzentrationslager verbunden ist. Unser Auftrag ist das Gebet um Versöhnung und ein Leben als Zeichen, dass der Tod nicht das Letzte ist. Wir beten nicht nur für Vergangenes, sondern ebenso für die jeweilige gegenwärtige Not in der Welt. Nach der Gründung 1964 wurde das Kloster in den Medien häufig als „Sühnekloster“ und die Schwestern als „Sühnenonnen“ bezeichnet. Gemeint ist damit aber keine Wiedergutmachung, denn wir machen nichts wieder gut. Da zu sein, präsent zu sein, an das Leid zu erinnern und solidarisch zu sein – das ist gefragt.
[inne]halten - das Magazin 8/2025

Leid und Freude
Die Osterbotschaft ist kein „Alles wird gut“ auf Knopfdruck, meint Pater Alfons Friedrich. Sie ist eine Einladung: Glaubst du, dass der Tod nicht das letzte Wort hat?
Glaubst du, dass das Leben stärker ist? Dann lebe so, dass andere Hoffnung finden.
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Wo ist Gott an einem so gottlosen Ort?
Wir müssen akzeptieren, dass an diesem Ort hier nie eine befriedigende Antwort auf die Frage nach Gott geben wird. Ich kenne sie auch nicht. Wo etwas schiefläuft, machen wir Gott verantwortlich. Ansonsten brauchen wir ihn häufig nicht und meinen, wir hätten alles selbst in der Hand. Gott können wir nicht verantwortlich machen, aber wir können selbst Verantwortung übernehmen. Wir können uns für das Gute und das Böse entscheiden. Gott nimmt uns diese Freiheit nicht. Aber er ist ein solidarischer Gott, der am eigenen Leib erfahren hat, wie sich Leid anfühlt.
Welche Rolle spielt der Karmel für die ehemaligen Gefangenen?
Inzwischen eine kleinere, denn es gibt kaum mehr Überlebende. Es gibt bis heute einen ökumenischen Gottesdienst in unserer Kirche anlässlich der Jahresbe¬freiungsfeier. Auch während des Jahres kamen verschiedene nationale Gruppen ehemaliger Häftlinge und feierten Gottesdienst. Das Kloster bot noch einen anderen Zugang für die Überlebenden als die Gedenkstätte, denke ich. Wir Schwestern sind immer vor Ort, man muss nur klingeln – der persönliche Kontakt ist nach meiner Erfahrung näher. Viele Überlebende sind einfach zu Kaffee und Tee gekommen und haben ihre Geschichte erzählt. Da werden Freundschaften geknüpft, die bleiben. Und ist es schön, dass sie ein anderes Dachau erleben.
Sie haben rund hundert ehemalige Gefangene mit Fotos porträtiert, wieso?
In den 80er Jahren ist mir aufgefallen, dass die ehemaligen Priesterhäftlinge weniger wurden. Die trafen sich am häufigsten und viele waren uns gut bekannt. Ich habe mir gedacht: Irgendwie muss ich sie bewahren, bevor sie ganz wegbleiben. Dann habe ich Mitte der 80er Jahre mit dem Fotografieren begonnen. Später durfte ich an den jährlichen Befreiungsfeiern, zu denen ehemalige Häftlinge aus aller Herren Länder zurück nach Dachau kommen, teilnehmen. Und so wurde es jedes Mal ein Wiedersehen oder eine neue Begegnung kam dazu. Immer wieder haben ehemalige Häftlinge außerdem bei uns im Kloster gewohnt, zum Beispiel wenn sie im Archiv der Gedenkstätte gearbeitet haben. Andere habe ich auch zu Arztbesuchen begleitet. Da schauen die Menschen schon komisch, wenn eine Nonne zum Urologen mitgeht. Aber uns war wichtig, ihnen zu helfen, wo sie halt gerade Hilfe brauchten.
Wie sind die Fotos entstanden?
Ich hatte keinen Auftrag dazu. Es war kein Projekt mit einem festen Ziel, das ich zum Abschluss bringen wollte. Mir war es wichtig, die Menschen kennen zu lernen, die hier gefangen waren. Sie sind das „Gesicht“ der KZ-Geschichte. Zuerst steht immer erst das Gespräch, ihre Geschichte. Fotografiert habe ich erst, wenn ich den Menschen kennen gelernt und das Gefühl hatte, jetzt darf ich ihn auch „festhalten“. Ich kenne also die Lebens- und vor allem Leidensgeschichten von allen, die ich fotografiert habe und das habe ich auch, so gut es ging, dokumentiert. Zu manchen habe ich einfach keinen Zugang gefunden. Da wäre es mir falsch vorgekommen, sie trotzdem zu fotografieren.
Auch die SS fotografierte die Gefangenen bei Haftantritt, hat Sie das beschäftigt?
Die Nazis haben die Gefangenen auf eine Nummer reduziert. Mit gleicher Kleidung, rasiertem Kopf, vor derselben Wand. Bei meinen Fotos stand in den Ausstellungen immer eine kleine Biografie und nur der Vorname neben dem Bild. Keine Nummer, sondern ein Mensch mit einer Geschichte. Alle Fotos sind zudem unterschiedlich. Es waren keine Studiofotos, sondern sie entstanden dort, wo wir unterwegs waren. Genaue Regieanweisungen habe ich nie gegeben. Fast alle Fotos sind aus einem Gespräch heraus entstanden. Ich bin keine ausgebildete Fotografin, das sieht man schon. Damals war außerdem alles noch analog, ich wusste nicht, was dabei rauskommt. Mir ist es darum gegangen, den einzelnen Menschen als Persönlichkeit zu zeigen und so der Geschichte ein Gesicht zu geben.
Was ist aus ihren Fotos und Dokumentationen geworden?
2011 habe ich alles – also die Fotos, die Negative, die Kontaktbögen, meine Aufzeichnungen, Briefe von Überlebenden – an die Gedenkstätte abgegeben. Sie sind dort im Archiv aufbewahrt, ein Viererblock hängt im Eingang des Verwaltungstrakts. Selbst habe ich nur einige Abzüge und ein kleines Album. Aber die Menschen, die hinter den Fotos stehen, die trage ich noch immer bei mir im Herzen.
Inzwischen leben im Karmel noch 13 Nonnen, die jüngsten Mitte 50 – welche Zukunft haben der Karmel und Ihre Gedenkarbeit hier?
Das ist eine schwierige Frage, die uns auch schon lange beschäftigt. Wenn es nur irgendwie möglich ist, wünschen wir uns, dass es hier als Ort des Gebets und des Gedenkens weitergeht. Ob das langfristig mit Schwestern sein wird, wissen wir nicht – mit Karmelitinnen wohl nicht. Vielleicht mit Laien oder mit einer internationalen Belegschaft, das ist alles denkbar. Aber es ist wichtig, dass es ein Ort des Gebets bleibt. Als Zeichen, dass man auf schreckliche Taten, die wir nicht verstehen können, trotzdem mit der Bitte um Versöhnung und Vergebung antworten kann.