Medien-Ethik
Mythen und Möglichkeiten der KI
Während die Weiterentwicklung der künstlichen Intelligenz in großen Schritten voranschreitet, tun wir uns immer noch schwer damit, die neuen technologischen Möglichkeiten richtig einzuordnen und zu verstehen. Was ist eigentlich intelligent an der KI? Wird sie uns Menschen bald in vielen Fähigkeiten ebenbürtig oder überlegen sein? Und ist es sinnvoll, von ihr die Lösung fast aller unserer Probleme zu erwarten? Oder ist gar der Weltuntergang zu befürchten?
Fast könnte man sich täuschen: Sophia hat eine recht differenzierte Mimik, scheint Gefühle auszudrücken, spricht mit einem modulierten Tonfall, stellt scheinbar Augenkontakt her, kann Gesichter wiedererkennen, auf Fragen antworten und sogar Witze machen. Das alles ist überraschend, denn Sophia ist kein Mensch, sondern ein mit künstlicher Intelligenz (KI) ausgestatteter Roboter des Hongkonger Unternehmen Hanson Robotics. Sophia kann mitunter so erscheinen, als ob sie ein Mensch oder doch ein sehr menschenähnliches Wesen sei.
Und doch „ist all dies nur ein Bluff“, so der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs. Sophia sei trotz ihrer technischen Leistungsfähigkeit nicht nur graduell vom Menschen unterschieden, sondern fundamental anders – nicht zuletzt deshalb, weil ihr ein bewusstes Erleben und die dafür notwendige lebendige Leiblichkeit fehlt. Was sie von sich gebe, seien „tönende Worte, wie die eines Papageis, beziehungsweise nicht einmal das, da ein Papagei seine Laute immerhin auch erlebt“.
Die verführerische Kraft der Simulation
Allerdings führt der technologische Fortschritt dazu, dass Simulationen wie Sophia immer besser werden, gleichsam „täuschend echt“ wirken. „Intelligente“ Maschinen und Anwendungen lassen sich von außen immer schwerer von Menschen „mit Leib und Seele“ unterscheiden. Immer häufiger erwecken sie den Eindruck, in einem menschlichen Sinne wahrnehmen, denken, verstehen, sprechen und entscheiden zu können.
Nicht zuletzt diese verführerische Kraft der Simulation kann uns empfänglich machen für Erzählungen, in denen die KI ungemein aufgeladen wird: Sie sei – so heißt es dann – in ähnlicher Weise intelligent wie der Mensch, werde ihn eines nicht fernen Tages in vielerlei Hinsicht übertreffen und gar zu einer Superintelligenz werden, der nicht selten gottähnliche Eigenschaften zugeschrieben werden. Diese Aufladungen mögen zum Teil eine Marketingstrategie sein: Forschungs- und Entwicklungsprojekte wollen gefördert, Produkte verkauft werden – dazu braucht es Aufmerksamkeit heischende Botschaften und Schlagzeilen. Nicht selten scheinen diese aber auch echter Überzeugung zu entspringen. Ray Kurzweil etwa, Entwicklungsleiter bei Google und zugleich eine Art KI-Prophet, dürfte seinen Prognosen zur näher rückenden „technologischen Singularität“ und ihrer gleichsam erlösenden Kraft selbst glauben.
Vergöttlichung und Dämonisierung
Einerseits wird die KI – oft diffus mit Robotik und Digitalisierung verwoben – mit regelrechten Heilsversprechen und Verheißungen verknüpft. Kaum ein Lebens- und Gesellschaftsbereich, für den nicht die Hoffnung auf umfassende KI-basierte technologische Lösungen, auf allumfassende Effizienz und Objektivität geweckt wird.
Besonders wild und quasi-religiös werden die Spekulationen, wenn sich futuristische Prognosen zu einer künstlichen Superintelligenz mit der Sehnsucht nach der transhumanistischen Überwindung menschlicher Endlichkeit verbinden – bis hin zur Verheißung eines unsterblichen „Geistes“, der sich in künstliche Strukturen „uploaden“ und von seinen leiblichen Fesseln befreien lässt. Hier verbindet sich eine uralte Leibfeindlichkeit mit einer reduktionistischen Sicht auf Seele und Geist.
Schrille Warnungen vor dem Weltuntergang
Nicht weniger schlagzeilenträchtig als Heilsversprechen sind gruselige Untergangsszenarien. Diese knüpfen an alte Mythen und Geschichten an, in denen der Mensch ein ihm ähnliches Wesen erschafft, das dann außer Kontrolle gerät und zum übermächtigen Monster wird. In etlichen dystopischen Science-Fiction-Romanen, Filmen und Serien wird die KI zu einer dem Menschen überlegenen Supermacht, die für Menschen oder gar die Menschheit insgesamt gefährlich wird. An diese (pop-)kulturell verankerten Bilder in vielen Hinterköpfen können manche schrillen Warnungen vor dem KI-bedingten Weltuntergang wirkmächtig anschließen.
Die mythenähnliche Quasi-Vergöttlichung und Dämonisierung sind zwei Seiten derselben Medaille: der Überhöhung der KI, sei es im Guten oder im Schlechten. Wenn wir aber die KI nicht „niedriger hängen“ und stattdessen in Gruselangst vor dem drohenden Untergang der Menschheit durch eine superböse KI oder aber in Sehnsucht nach Heil und Erlösung durch die KI verharren, bekommen wir die realen und keineswegs zu unterschätzenden Risiken und Chancen der KI nicht angemessen in den Blick. Die KI-Mythen zu hinterfragen, heißt nicht, die Bedeutung der KI kleinzureden – es bedeutet, genauer hinzuschauen.
Verdrängung menschlicher Urteilskraft
Die – positive oder negative – Aufladung der KI kann den kritischen Blick auf schon wirksame und tendenziell wachsende Gefahren und Probleme der KI verstellen. So können KI-basierte Bewertungs- und Prognoseanwendungen bestehende Diskriminierungen fortführen und verstärken. Die KI-Unterstützung von Prozessen etwa in medizinischer Diagnose oder auch im Einsatz automatisierter Waffen kann aufgrund der scheinbaren Objektivität der KI zur Verdrängung menschlicher Urteilskraft und zur Diffusion von Verantwortung führen. KI kann Datenschutz und die Privatsphäre gefährden. KI-erzeugte Nachrichten, Bilder oder Stimmen können die Gefahr von Fake News steigern, den Unterschied zwischen Schein und Sein weiter einebnen und damit auch den für eine Demokratie unerlässlichen öffentlichen Diskurs untergraben.Und: Um die KI mit Daten zu „füttern“, braucht es unzählige „Click-Worker“. Viele sind oft im globalen Süden unter prekären Bedingungen beschäftigt. Nicht wenige werden traumatisiert, weil sie Inhalte voller Grausamkeit erkennen und aussortieren müssen. Die oberflächlich so „cleane“ KI hat hier eine sehr schmutzige Seite.
Entlastung von zeitraubenden Tätigkeiten
Freilich können auch die realen und beeindruckenden Chancen der KI aus dem Blick geraten, wenn wir den utopischen oder dystopischen KI-Mythen glauben, statt auf die realen Möglichkeiten zu schauen. In der Tat kann die KI nämlich ein sehr nützliches Instrument sein, das den Menschen von vielen lästigen, zeit- und kraftraubenden oder auch belastenden und gefährlichen Tätigkeiten entlasten kann; manches (zum Beispiel Mustererkennung in gigantischen Datenmengen) kann sie tatsächlich besser und vor allem viel schneller. Dadurch kann Zeit und Kraft frei werden für Tätigkeiten, in denen wir Freude und Sinn erleben und unsere spezifisch menschlichen Begabungen entfalten und einbringen können. Je mehr wir – eine ethisch-politische Einhegung vorausgesetzt – die spezifische Kraft der KI als Entlastung und Unterstützung zum Zuge kommen lassen, desto mehr kann sich auch das entfalten, was eben nur der Mensch kann und die KI niemals können wird.
Und: Zwar kann die KI nicht im eigentlichen Sinne des Wortes entscheiden. Dazu mangelt es ihr an Bewusstsein, Willen, Emotionalität, selbst gesetzten Zwecken – es geht ihr schlicht um nichts. Und doch kann sie menschliche Prognose-, Abwägungs- und Entscheidungsprozesse unterstützen und verbessern – vorausgesetzt, wir setzen sie reflektiert ein und wissen, unter welchen Umstände und in welchen Hinsichten wir der Technik vertrauen können (oder auch nicht).
Ethik von Anfang an
Um diese realen Risiken und Chancen der KI frühzeitig berücksichtigen zu können, braucht es eine KI-Ethik, die nicht nachträglich (und zu spät) hinzukommt, sondern bereits innerhalb konkreter Entwicklungsprozesse zum Zuge kommt. In christlicher Perspektive ist hier eine Option für die Benachteiligten entscheidend: Welche Gruppen, die bereits benachteiligt und von Entscheidungsprozessen weitgehend ausgeschlossen sind, können durch diese technologische Entwicklung zusätzlich benachteiligt werden – oder auch von ihr profitieren?
Wie können KI-basierte Systeme so entwickelt und eingesetzt werden, dass sie die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen erleichtern – und nicht noch zusätzliche Barrieren errichten? Auch hier gilt: Eine gerechte KI wird es nur geben, wenn die Perspektive, Bedarfe und Rechte der Betroffenen von Anfang an systematisch einbezogen werden.
Und es braucht angesichts der rasanten technologischen Entwicklung politische Regularien, wie sie zum Beispiel auf EU-Ebene versucht werden oder auch vom Vatikan (mit Unterstützung auch anderer Religionsgemeinschaften) gefordert werden. Freilich: Dagegen stehen mächtige Interessen, etwa das Profitstreben der global agierenden Tech-Unternehmen oder auch Kontroll- und Sicherheitsbestrebungen in der Politik. Ob sich ethische Gesichtspunkte und politisch-rechtliche Regulierungen dagegen durchsetzen lassen, ist mehr als ungewiss. Statt sich in dystopischen und letztlich nur lähmenden Phantasien vor „der KI“ zu fürchten, sollten wir daher eher einen kritischen, ethisch-politischen Diskurs über politische und ökonomische Machtverhältnisse führen, unter denen KI zu gemeinwohlschädlichen Zielen eingesetzt wird.
Alte Fragen neu stellen
Statt das Heil von der KI zu ersehnen oder die Gefahr des Weltuntergangs zu beschwören, sollten wir die technologische Entwicklung zum Anlass nehmen, alte Fragen neu zu stellen. Einige seien exemplarisch genannt:
- Woher rührt der sehr alte, an Prometheus erinnernde, kulturgeschichtlich vielfältig durchgespielte und durch KI und Robotik scheinbar realistisch werdende Wunsch, ein dem Menschen sehr ähnliches oder gar ihm gleiches Wesen zu schaffen? Wollen wir wie Gott sein und die mit dem „Nur“-Geschöpf-Sein womöglich verbundene Kränkung überwinden?
- Auf welche Wünsche und Sehnsüchte scheinen die der KI zugeschriebenen Heilsversprechen eine Antwort zu geben? Geht es insgeheim, manchmal auch ausdrücklich darum, ein für alle Mal von Begrenzungen und Beeinträchtigungen, die mit dem Mensch-Sein verbunden sind, erlöst zu werden? Ist es die Sehnsucht nach Überwindung von Unsicherheit, Not, Angst, Schmerz und Leid – die Sehnsucht nach Heil und letztlich Unsterblichkeit? Hat sich die Hoffnung auf Gott auf die Technik verschoben?
- Was ist uns persönlich, aber auch als Gemeinschaft für das Leben und Zusammen-Leben wirklich wichtig und wertvoll – und auf welchem Weg glauben wir, das realisieren zu können? Wenn es sich, wie ich meine, eben nicht wie ein dinghaftes Produkt herstellen lässt, auch nicht mit noch so viel technologischem Know-how und noch so „kluger“ KI: Wie können wir dann im persönlichen, gemeinsamen und auch politischen Handeln darauf hinzuwirken versuchen, dass es sich ereignet und uns widerfährt?
Wer sind wir und wer sollen wir sein?
Schließlich: Wie verstehen wir unser Mensch-Sein – was meinen wir, wer wir als Menschen sind, wer wir sein können und sein sollen? Der Versuch, eine dem Menschen nicht nur simulierende, sondern annähernd gleiche Maschine zu schaffen, muss meines Erachtens zwar scheitern, auch wenn der KI-Hype anderes verspricht. Wir können die Maschine nicht zum Menschen machen – der Versuch jedoch kann die Versuchung verstärken, umgekehrt den Menschen zur Maschine zu machen. Genauer: den Menschen und all seine Vollzüge als „biologische Maschine“ zu verstehen und die perfekt funktionierende Maschine zum Idealbild menschlicher Entwicklung und Bildung zu erheben.
Schon seit geraumer Zeit werden immer mehr Menschen und ihre Handlungen zum Objekt von Vermessung und Berechnung (was gegenüber Maschinen angemessen ist), immer mehr soll der (bereits sehr junge) Mensch aus diversen Inputs möglichst fehlerfrei und möglichst effizient messbaren Output produzieren (was man von einer Maschine durchaus erwarten darf); immer mehr ist das Ziel, möglichst perfekt zu funktionieren (was wir an einer Maschine zu Recht schätzen). Wollen wir so unser Mensch-Sein verstehen und leben? Ist die Maschine das Bild, nach dem wir uns und einander bilden wollen? Was ist mit den Vollzügen des Menschen, die keinen Beitrag zur Optimierung des Input-Output-Verhältnisses leisten, sich dem Funktionalismus entziehen oder sogar stören – aber das Leben durch alle Wirrungen und Irrungen hindurch vielleicht erst schön, sinnvoll und wunderbar machen?
Wenn wir diesen Fragen nicht ausweichen, können wir die KI sinnvoll als das einsetzen, was sie durchaus sein kann: ein sehr nützliches, menschendienliches, vielleicht sogar segensreiches Mittel zum Zweck. Worin jedoch dieser „Zweck“ besteht, wird uns auch eine noch so smarte Superintelligenz niemals sagen können.
Thomas Steinforth
Termine
Veranstaltungen der Domberg-Akademie im Rahmen des Saisonthemas „Heilsversprechen KI“:
Was ist eigentlich „intelligent“ an der sogenannten KI? 15. Januar 2025, 17.00–19.15 Uhr, in Präsenz (Deutsches Museum) und online
Kann KI predigen und das Wort Gottes auslegen? 16. Januar 2025, 19.30–21.00 Uhr, online via Zoom
KI-Narrative – Wie Filme unsere Vorstellung über künstliche Intelligenz prägen. 22. Januar 2025, 19.00–20.30 Uhr, online via Zoom
KI und Robotik im Kontext Teilhabe und Inklusion – Chancen und Risiken für Menschen mit Behinderungen. 5. Februar 2025, 19.00–20.30 Uhr, online via Zoom
Online-Buchklub: Unendliche Weiten – Science Fiction und KI in in der Literatur. 27. Februar 2025, 19.30–21.00 Uhr, online via Zoom
Alle Termine und Anmeldemöglichkeit unter www.domberg-akademie.de.