Kultur und Wissen
19.03.2025


Evolution der Gewalt

Wir sind sozial und friedliebend

Harald Meller und Kai Michel haben mit „Evolution der Gewalt“ einen neuen Bestseller geschrieben. Dabei haben sie den Evolutionsbiologen Carel van Schaik hinzugezogen. Sie sind überzeugt, dass der Krieg den Menschen nicht in den Genen liegt, sondern eine relativ junge Erscheinung der Geschichte ist. Im Gespräch mit innehalten.de erläutern sie ihre Thesen.


Unser Bild von der Antike ist nicht unwesentlich durch Gewalt- und Kriegsdarstellungen geprägt. In noch früheren Zeiten, etwa in der Steinzeit, hätte das kriegerische Element keine Rolle gespielt, sagt Harald Meller. Unser Bild von der Antike ist nicht unwesentlich durch Gewalt- und Kriegsdarstellungen geprägt. In noch früheren Zeiten, etwa in der Steinzeit, hätte das kriegerische Element keine Rolle gespielt, sagt Harald Meller. Foto: © imago/Panthermedia

Es gibt Kriege und enorme Rüstungsanstrengungen weltweit. Wie kommen Sie darauf, dass der Homo Sapiens im Grunde seines Herzens eine ganz liebe, friedliche Art sein soll?

Michel: Historiker wie ich konzentrieren sich auf schriftliche Quellen, also auf die letzten 5.000 Jahre. Das ist ein Zeitraum, in dem Kriege so allgegenwärtig erscheinen, dass man versucht ist, anzunehmen, die kollektive Gewalt sei fest in der Natur des Menschen verankert. Doch das ist falsch, das sagen die Erkenntnisse der Archäologie und der Evolutionsbiologie. Meine Co-Autoren blicken viel, viel tiefer in die Entwicklung der Menschheit zurück. Deshalb können wir zeigen, dass Krieg eine recht junge Erfindung ist. 99 Prozent der Menschheitsgeschichte sind friedlich verlaufen. Krieg ist damit nicht unser unausweichliches Schicksal.
 

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In ihrem Buch räumen Sie aber ein, dass selbst Schimpansen übereinander herfallen und Mitglieder anderer Gruppen massakrieren. Ist uns Primaten, zu denen der Mensch ja zählt, nicht doch der Krieg in den Genen eingeschrieben?


Michel: Schimpansen mussten lange als Kronzeugen für unsere kriegerische Natur herhalten. Sie sind unsere nächsten Verwandten und legen zuweilen ein Verhalten an den Tag, das man als Krieg bezeichnen kann. Heute wissen wir, dass wir aber genauso nah verwandt sind mit Bonobos – und diese lösen Konflikte eher mit Sex als Gewalt. Entscheidend ist: Die Entwicklungslinien unserer Vorfahren und der Schimpansen trennten sich bereits vor rund sieben Millionen Jahren, die Linien von Schimpansen und Bonobos spalteten sich dagegen erst vor rund zwei Millionen Jahren auf. Das bedeutet: Wenn wir allein aufgrund unseres Primaten-Erbes besonders aggressiv sein sollen, müssten Bonobos das auch sein. Unsere Evolution vollzog sich zudem unter gänzlich anderen Bedingungen: Wir wurden eine hochsoziale Art.

Meller: Tatsächlich liegen die ersten Massaker, die wir unter Menschen archäologisch nachweisen können, kaum mehr als 10.000 Jahre zurück. Wenn wir auf den vor über zwei Millionen Jahren entstandenen Homo erectus blicken, oder auf unsere Spezies, den Homo sapiens mit einem Alter von 300.000 Jahren, dann spielt dort das kriegerische Element keine Rolle. Begegnungen unterschiedlicher Gruppen waren auf Kooperation angelegt, weil wichtige Informationen etwa über Wasserstellen oder Wildbestände ausgetauscht wurden. Unsere Vorfahren lebten als Jäger und Sammler in kleinen Gruppen, die durch weite Gebiete gezogen sind, auch wechselten Menschen die Gruppen. Philosophen wie Rousseau haben den friedlichen Urzustand und das Gute im Menschen zu stark idealisiert. Denn natürlich gibt es ein individuelles Aggressionspotenzial. Wir können jemanden umbringen aus Eifersucht, aus Zorn, aus Wut, aber das geschieht im Affekt, individuell. Und wir haben uns stets verteidigt, wenn wir angegriffen wurden – das war aber die meiste Zeit gegen wilde Tiere. Überfälle lohnten nicht: Mobile Jäger und Sammler hatten weder nennenswerten Besitz noch umgrenzte Territorien, Nahrung war stets reichlich vorhanden.

Wie kann es dann zu den entsetzlichen Ausbrüchen von Gruppengewalt kommen, die nicht von außen provoziert sind?

Meller: Das ist etwas, das mit dem Neolithikum, der Jungsteinzeit, förmlich explodiert. Die Menschen wurden sesshaft, erfanden Ackerbau und Viehzucht und damit Eigentum in nennenswerten Umfang. Zuvor zogen unsere Vorfahren als weitgehend gleichberechtigte Jäger und Sammler umher. Besitz hätte sie da belastet. In gewisser Weise erinnert die Bibel daran, dass die Menschen das Paradies des Jäger- und Sammlertums verloren haben. Als Jäger und Sammler verbringt man nur wenige Stunden am Tag mit der Nahrungssuche Die Bibel hat also durchaus recht, wenn es den Ackerbau, das sich Im-Schweiße-deines-Angesichts-das-Brot-Verdienen, als Strafe darstellte. In der Konsequenz wächst die Bevölkerung immens, der fruchtbare Boden wird knapp und bald wird es zur Regel, dass Kain Abel erschlägt. Kriege werden alltäglich, Hierarchien und Herrschaft entstehen, auch das Patriarchat. Erfolgreiche Warlords gründen die ersten Staaten im alten Ägypten und Mesopotamien. Das sind menschenverachtende Despotien. Auch davon erzählt die Bibel. Menschen werden in den Krieg gezwungen, ihre natürliche Tötungshemmung wird abtrainiert. Das geschieht bis heute. Keiner würde fremde Leute einfach ermorden, außer er ist ein Psychopath. Manchmal aber sind Psychopathen leider Staatenlenker.
  

[inne]halten - das Magazin 9/2025

Papst Franziskus ist tot.


Ein Pontifikat des Zuhörens, der Barmherzigkeit und der Nähe ist zu Ende gegangen.

In unserer aktuellen Ausgabe von [inne]halten blicken wir zurück auf das Leben und Wirken von Papst Franziskus, auf seine Zeichen der Demut, seine Reformimpulse und seine Botschaft an die Welt.
Wir ordnen ein, was nun geschieht – vom Abschied bis zur Wahl seines Nachfolgers.

Lesen Sie im [inne]halten-Magazin unseren Themenschwerpunkt und weitere Geschichten und Berichte aus dem kirchlichen Leben.


Das Christentum geht davon aus, dass es Menschen zum Bösen treibt, weil sie die Erbsünde in sich tragen. Das ist oft biologisch verstanden worden. Joseph Ratzinger hat die Erbsünde dagegen eher historisch beschrieben: „Niemand hat die Möglichkeit, an einem perfekten ‚Punkt Null‘ anzufangen und sein Gutes in völliger Freiheit zu entwickeln.“ Menschen finden also geschichtlich vorgegebene Fakten vor – heute zum Beispiel, dass es etwas mehr als 8 Milliarden Menschen gibt, Wasser, Ackerflächen und Rohstoffe immer knapper werden und ihr Besitz zunehmend umstritten ist. Wie lässt sich das noch friedlich lösen?


Michel: Was Ratzinger sagt, trifft es ganz gut. Wir tragen eine historische Last. Aber die muss nicht zwangsläufig zu Kriegen führen. Auch wenn die Denkfigur verbreitet ist, dass Ressourcenmangel und immer mehr Menschen automatisch Kriege entfesseln. Doch das ist falsch. Erstens sind Menschen kreativ, Lösungen für neue Herausforderungen zu finden. Zweitens ist das Problem nicht der Mangel an Ressourcen, sondern deren ungerechte Verteilung. Wenige der reichsten Männer dieser Welt besitzen so viel wie Milliarden der Ärmsten. Sie kennen das Jesuswort: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt. Solch unermesslicher Reichtum ist ein Skandal – und genauso das Produkt jener historischen Prozesse, die den Krieg hervorbrachten. Die materielle Ungerechtigkeit in jeder Hinsicht weltweit zu reduzieren, ist eines der besten Rezepte gegen Krieg – und das können Menschen steuern. Wir haben es hier allein mit kulturellen Phänomenen zu tun.

Was ist Ihrer Meinung nach nötig, damit wir diese geschichtlich erlernte Kriegsbereitschaft wieder verlernen und unsere Ururenkel die Köpfe über die Irrwege menschlicher Aggression schütteln?

Michel: Vielleicht muss das gar nicht so lange dauern. Denken Sie nur an die „ewige“ deutsch-französische „Erbfeindschaft“. Wer hätte vor 80 Jahren geglaubt, dass die beiden Länder heute in Freundschaft verbunden sind? Der Krieg sitzt eben nicht in unserer „dunklen Natur“.

Meller: Wir können aufklären, und das versuchen wir in diesem Buch mit unseren Mitteln als Wissenschaftler. Aufklären über die gerade einmal 5.000 Jahre alten Herrschafts-Erzählungen von der unvermeidlichen Gewalt, über kriegstreiberische Lügen und Fake News. Das stärkt Demokratien, von denen viel weniger Kriege ausgehen als von Diktaturen. Es gibt zu Recht riesige Konferenzen, um den menschengemachten Klimawandel zu bekämpfen. Beim Krieg dagegen reden uns Ideologen, Interessensgruppen und Autokraten immer noch ein, dass sich dagegen nichts unternehmen lässt. Doch der Krieg ist keine biologische Tatsache. Er ist menschengemacht, eine kulturelle Erfindung. Unsere Vorfahren lebten Jahrhunderttausende bestens, ohne sich ständig gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Wir Menschen sind eigentlich die netten Affen. Wir sollten uns nicht von den Despoten unserer Tage das Gegenteil einreden lassen.

Zum Weiterlesen
Meller, Harald; Michel, Kai; van Schaik, Carel Die Evolution der Gewalt
DTV, 2024
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Innehalten - Leseempfehlung
Alois Bierl
Artikel von Alois Bierl
Chefreporter
Beschäftigt sich mit wichtigen Trendthemen wie Spiritualität.