Rituale
05.10.2024

Kolumne

Kürbis statt Kapitulieren

Rilke sagt, der Sommer war groß, die Kirchen feiern Erntedank und durch meine Timeline rollen Kürbisrezepte. 

Foto: © privat, erweitert mit KI

Der Herbst ist die sentimentalste der Jahreszeiten. Über allem liegt ein Goldfilter. Was jetzt nicht getan ist, wird nicht mehr getan. An den Türen hängen Kränze aus Hagebutten (fünf Euro der Zweig), die Welt soll bitte draußen bleiben. Altäre werden mit Möhren und Pastinaken und Ährenbündeln geschmückt. Dabei greifen die meisten doch lieber zur toskanischen Gemüsepfanne aus dem Tiefkühlregal. „Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land“, singen ein paar Textsichere und denken dabei an die Tüte mit den Kressesamen, die immer noch im Schrank liegt.  

Alles, was ich geerntet habe, sind zwei Kastanien.


Sie haben es irgendwie in meine Jackentasche geschafft, man kann sie weder essen noch konservieren. In drei Wochen werden sie schrumpelig sein, aber jetzt fühlen sie sich gut an.  

Jesus hat sich auf den Altar gesetzt und pult die Körner aus den Ähren. Ich sage, er solle das lassen, das sei Deko. Aber von Deko hält Jesus nichts, und Ernten ist sowieso nicht seine Sache, er sät lieber. Selbst jetzt im Herbst, wo eigentlich alles gelaufen ist. Mit vollen Händen wirft er seine Saat unter die Leute - und wenn die Hälfte seiner Worte unter die Dornen fällt und im braunen Morast erstickt, entmutigt ihn das nicht. Er sagt Worte wie „Frieden“ und „Liebe“. Das ist auch ein bisschen retro, jetzt, wo man wieder sagen darf, dass die Ausländer raus müssen und die Grünen weg, weil man dann erstmal einen Schuldigen hat. Damit kennt sich Jesus gut aus. Hauptsache, man nagelt jemand ans Kreuz. Das ändert nichts an den eigentlichen Problemen, aber es lenkt ab.  

Ich frage, ob ihn das nicht frustriert. Immer das gleiche, die Menschen lernen nichts, auch in 2000 Jahren nicht.


Anzeige

Da möchte man doch den Kopf in den Acker stecken

Aber Jesus ist selber abgelenkt, er scrollt durch Kürbisrezepte. „Guck mal“, sagt er, „das kenne ich noch nicht. Das probiere ich heute Abend aus. Kommst du? Bring mit, wen du willst. Der Topf ist groß“. Ich will einwenden, dass Suppe auch keine Lösung ist. Aber dann halte ich mich an meiner Kastanie fest und nicke tapfer, weil Jesus schon immer mehr fürs Tun als fürs Lamentieren war. Kürbis statt Kapitulieren.

Kürbissuppe
1 großer Hokkaido-Kürbis | 1 Zwiebel | ein Stück Ingwer | 1 Liter Brühe | 400 ml Kokosmilch | 100 ml Orangensaft | Butter, Curry, etwas Chili | ein großer Topf | ein Tisch | eine offene Tür

Zwiebeln und Ingwer anbraten, Kürbis in Stücke schneiden und in Brühe, Kokosmilch, Orangensaft so lange kochen, bis er weich ist. Pürieren und würzen. Jemanden bitten, Brot mitzubringen. 
Susanne Niemeyer
Artikel von Susanne Niemeyer
Freie Autorin
Susanne Niemeyer hält von ihrem Schreibtisch in Hamburg Ausschau nach dem Himmel. Sie hat bereits zahlreiche Bücher veröffentlicht und bloggt auf www.freudenwort.de. Im Sommer macht sie Lagerfeuer und hält am liebsten zusammen mit anderen Stockbrot in die Glut.