Santiago ist nicht Mekka: Wie ein muslimischer Professor auf dem Jakobsweg neue spirituelle Erfahrungen sammelte
Der Jakobsweg verzeichnet immer wieder neue Rekordpilgerzahlen. Das liegt auch daran, dass längst nicht mehr nur fromme Christen nach Santiago de Compostela aufbrechen. Nun hat sich auch ein gläubiger Muslim dazu bekannt, ein Stück des Jakobswegs gegangen zu sein. Über seine überraschenden spirituellen Erfahrungen hat der Münsteraner Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide ein Buch geschrieben.
Dass sich Mouhanad Khorchide auf den Weg zum Grab des heiligen Jakobus gemacht hat, war eher Zufall. Im Mai vergangenen Jahres sucht Professor Khorchide nach einer Möglichkeit, sich vom stressigen Uni-Alltag zu erholen. Eine christliche Bekannte rät ihm, es doch einmal mit dem Jakobsweg zu versuchen. Der gläubige Muslim kennt bislang nur die Pilgerfahrt nach Mekka, ist aber durchaus offen für andere religiöse Erfahrungen. Es sei die reine Neugierde gewesen, nach Santiago zu pilgern, gesteht der Islamwissenschaftler. Er habe sich überhaupt nicht mit dem Thema befasst und auch keine Gedanken dazu gemacht, was man bei einer christlichen Pilgerfahrt alles beachten müsse.
Diese Einstellung rächt sich. Professor Khorchide fliegt über Madrid nach Santiago de Compostela, um ohne Umwege an das Grab des heiligen Jakobus zu gelangen. Er war sich sicher: Pilgern kann nur so funktionieren wie das Pilgerritual in Mekka. „Ich dachte, man geht zum Grab des heiligen Jakobus und vollzieht dort irgendwelche Rituale. Und ich dachte, dass es reicht, mich vor Ort zu informieren. Bis ich darauf gekommen bin: ich habe alles falsch gemacht“.
100 Kilometer in die falsche Richtung: Khorchides umgekehrter Pilgerweg
Nach Hause fährt Professor Khorchide aber nicht. Er macht einfach das Beste aus der Situation. „Wenn ich schon da bin, dann pilgere ich halt den umgekehrten Weg“, macht er sich Mut. "Man hat mir gesagt, man müsse mindestens 100 Kilometer zu Fuß gegangen sein, um als Pilger zu gelten". Daraufhin beschließt er, den umgekehrten Weg für 100 Kilometer zu gehen. Ein Pilger, der in die falsche Richtung geht: Das bringt Professor Khorchide natürlich viel Aufmerksamkeit. Die anderen Pilger wundern sich und kommen ins Gespräch mit ihm.
Der Jakobsweg als Reise nach innen: Begegnungen und Selbsterkenntnis
Aber auch Khorchide ist verwundert, als er bei den Begegnungen auf dem Jakobsweg feststellt, dass die meisten gar nicht aus religiösen Gründen unterwegs sind. „Das hat mich irritiert. Bis ich dann durch die Gespräche verstanden habe, für diese Menschen war es eine Reise nach innen, eine Auszeit, um Raum zu schaffen, um in sich hineinzugehen“.
Kleine Schritte, große Erkenntnisse: Was der Jakobsweg lehrt
Genau das tut Professor Khorchide dann auch. Er führt immer öfter Gespräche mit sich selbst. Seine muslimische Gebetskette bleibt fast die ganze Pilgerfahrt hindurch unbenutzt. Und noch eine neue Erfahrung macht er. Indem er kleine Etappen absolviert, lernt er, keine Ziele anzustreben, die nur schwer erreichbar sind: „Es reicht, die kleinen Etappen zu haben, um dem Leben einen Sinn zu geben. Es muss nicht immer ein großes Ziel sein“.
Spirituelle Auszeit im Alltag: Wie der Jakobsweg Khorchides Leben veränderte
Besser auf sich selbst achten, ist eine zentrale Erfahrung, die Professor Khorchide vom Jakobsweg mit in sein Alltagsleben genommen hat. Zurück im beruflichen Alltag, versucht er sich einmal am Tag von der Welt zu isolieren, mindestens eine halbe Stunde. „Ich möchte mich selbst auch nicht vermissen. Und diese Selbstgespräche, die ich auf dem Pilgerweg geführt habe, möchte ich hier auch weiter behalten, weil sie eine große Bereicherung für mich waren“.
Interreligiöser Dialog auf dem Jakobsweg: Gemeinsames Pilgern 2025
Fasziniert hat den Islamwissenschaftler zudem, dass man auf dem Jakobsweg unkompliziert miteinander ins Gespräch kommen kann. Für den interreligiösen Dialog sei das eine ideale Voraussetzung, findet Khorchide. Er plant deshalb, auf den Jakobsweg zurückzukehren. Aber nicht allein, sondern mit einer Pilgergruppe aus Christen und Muslimen. 2025 soll die ungewöhnliche christlich-muslimische Pilgerreise Wirklichkeit werden.