Kolumne
Den Alltag durch Rituale in Form bringen
Wir können durch Rituale jedem Tag eine Form geben. Diese kleinen Routinen haben heilsame Folgen, weiß Frank Berzbach.

Die Morgenschallplatte
Mein Tag kennt viele kleine Rituale. Am frühen Morgen - unsere beiden Katzen wecken uns und wollen gefüttert werden - koche ich zuerst Tee. Mit dem Teetablett gehe ich ins Schlafzimmer zurück, lege eine Schallplatte auf – unsere »Morgenplatte«. Ich zünde ein Räucherstäbchen an, wir lesen ein Gedicht oder das neue Gebet aus dem »Gebetsnetzwerk des Papstes«, das uns eine App aufs Smartphone liefert. Die Seite einer Langspielplatte läuft etwa 20 Minuten, aber über diese Zeit den Beatles oder Sam Cooke zugehört zu haben, lässt die Sonne auch dann aufgehen, wenn es draußen blitzt und donnert. Es gibt »Morgenmusik«. Dann stehen wir auf und beginnen zu arbeiten. Wir könnten auch eine halbe Stunde länger schlafen, sind uns aber einig, dass dieser rituelle Einstieg in den Tag uns eine bessere Startposition verschafft. Eine morgendliche Routine weckt die Lebensgeister.
Rituale geben Kraft
Einem Ritual zu folgen ist eine bewusste Entscheidung. Es geht also um mehr als um bloße Gewohnheiten oder unbewusste Routinen. Wenn wir einem Ritual folgen, verlassen wir kurz die gewöhnliche Welt. Mit dem Zubereiten des Tees, dem Gebet und der Schallplatte trennen wir uns kurz vom Alltag ab; wir geben uns einer geregelten Zeremonie hin. Noch gelten nicht die gewöhnlichen Herausforderungen des Tages. Die Sache ist zeitlich umgrenzt und wenn der letzte Beatles-Song zu Ende ist, kommen wir gestärkt aus der Routine wieder hervor – der Tag kann beginnen. Wir sind bewusst einem Ablauf gefolgt, von dem wir wissen, dass er uns gut tut.
Der Alltag als kleine Zeremonie
Bei Karl Rahner habe ich gelesen, dass man sich früher bekreuzigte, bevor man ein neues Brot anschnitt. Die kleine Geste hat mich berührt und zum Nachdenken gebracht. Selbst im Vater unser wird das „täglich Brot“ genannt, wieso sollte man es unüberlegt anschneiden? Nicht einmal der heutige Überfluss sollte dazu führen, dass wir die Dankbarkeit vergessen: Ein Blick in die Zeitung genügt, um zu wissen, dass nicht jeder etwas zu essen hat.
Wer sich einem Ritual fügt, der erkennt etwas an, das größer ist als er selbst. Er glaubt an die Kraft der Wiederholung und Vertiefung. Das gilt auch für die kleinen Ereignisse: Wir können triviale Alltagshandlungen als Anlass nehmen, um kurz innezuhalten. Es gibt immer wieder Augenblicke, die zu Ritualen einladen. Und so zeigt sich mit ein bisschen schöpferischer Wahrnehmung: Der Alltag ist alles andere als alltäglich!
Den Dingen eine Bedeutung geben
Manchmal komme ich mir ein bisschen seltsam dabei vor, wenn ich mich still bei einem Autor, einer Autorin bedanke, bevor ich sein Buch aufschlage. Immerhin hat er es geschrieben, auch für mich; es stecken viele Jahre der Arbeit darin.
Ich lese anders, wenn ich vorher innegehalten habe. Ich esse anders, wenn ich mich vorher bekreuzigt habe und ich beginne den Tag anders, wenn ich vorher einen Tee getrunken habe. Bestimmte Handlungen nicht einfach auszuführen, sondern sie zum kleinen Ritual zu erklären, steigert unser Formbewusstsein; es stattet die Dinge mit Bedeutung aus. Etwas bewusst zu tun, wiederholend und gerahmt, verändert Vieles: Es verleiht dem Tag einen Rhythmus, den Handlungen einen tieferen Sinn und sensibilisiert für ganz gewöhnliche Abläufe. Schon die Konzentration auf den eigenen Atem kann Wunder wirken, wenn der Stress größer wird: zehn Mal durchatmen.
Die Buddhisten kennen die kleine Verbeugung und auch Christen verneigen sich oft kurz, bevor sie den Kirchenraum betreten. Als ich meinen Zen-Lehrer einmal fragte, wann man diese Verbeugung - „Gassho“ genannt - ausführt, sah er mich erstaunt an: „Na, immer!“ Er meinte, wer sich verbeugen kann, der habe alles verstanden, tue alles bewusst. Es ist wie die Geste der Sich-Bekreuzigens: Sie bereitet eine Handlung vor, sie zeigt Dank und weckt den Geist. Ich schneide nun das neue Brot an. Ich schlage das neue Buch auf. Nun trinke ich Tee. Und dann gehe ich in den Tag! Er kann kommen.