Glaubenswelten
21.12.2024


Kolumne

Joghurt-Box und Weihnachtsbotschaft: Wie echte Nähe das Menschsein feiert

Als Andreas Knapp in Bolivien lebte, ging ihm auf einem großen Indio-Markt auf , was „Menschwerdung Gottes“ bedeuten kann: An Weihnachten feiern wir die Würde unseres Menschseins.

Foto: © SMB

Mehrere Jahre lebte ich gemeinsam mit drei Mitbrüdern in einem Indio-Dorf in der Nähe von Cochabamba in Bolivien. Gemäß den Ordensregeln meiner Gemeinschaft – der „Kleinen Brüder vom Evangelium“ – bemühten wir uns, das Leben der einfachen Leute zu teilen und entsprechend unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Unsere Nachbarn hatten drei Kühe, und mit deren Milch stellte ich Joghurt her. Mehrmals in der Woche ging ich dann auf den großen Indiomarkt von Cochabamba, um den Joghurt zu verkaufen. Ich hängte mir eine große Kühlbox um, damit der Joghurt frisch blieb, und zog als Straßenverkäufer über den Marktplatz der Stadt. Dort pries ich mein Produkt an mit dem Werbespruch: Della vaca alla boca – Von der Kuh ins Maul.


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Auf einmal war alles anders

Eines Tages kam mein Bruder Clemens zu Besuch. Ich wollte ihm auch meinen „Arbeitsplatz“ zeigen, und so liefen wir zu zweit durch Cochabamba. Doch es war anders als sonst: Jetzt kamen zerlumpte Indios auf uns zu, um uns anzubetteln. Straßenkinder umringten uns und wollten Kugelschreiber und Kaugummis verkaufen. Das war mir vorher nie passiert! Mit einem Schlag wurde mir klar: Zwei Weiße, in ordentlicher Kleidung und vielleicht noch mit einer Fototasche ausgerüstet, waren als Touristen erkennbar – und wurden entsprechend behandelt. Vorher war ich immer mit meiner Joghurt-Box unterwegs gewesen und somit für die Indios einer von ihnen. Man bettelte mich nicht an, weil klar war, dass ich als Straßenverkäufer auch nicht viel verdiente.

Beim abendlichen Gebet in der Gemeinschaft dachte ich noch einmal über das Erlebte nach und mir wurde deutlich: Gott ist in Jesus Christus zu uns gekommen und hat uns „besucht“, wie es im Lukasevangelium heißt. (vgl. Lk 1,78) Aber Gott kam nicht als Tourist!

Liebende wollen einander nahe sein und das Leben teilen

Wer sich für einen anderen Menschen interessiert, geht nicht in seine Wohnung, um sie zu besichtigen! Vielmehr freut er sich, etwas von der Atmosphäre zu spüren, die seine Wohnung ausstrahlt. Und wenn wir jemanden gernhaben, dann kommen wir nicht nur zu einer kurzen Stippvisite, sondern wollen möglichst viel Zeit mit der geliebten Person verbringen. Wollen ihren Alltag teilen, gemeinsam etwas unternehmen und Freizeit gestalten.

Und so denke ich: Weil Gott die Freundschaft von uns Menschen sucht, wird er einer von uns. In Jesus von Nazareth teilt Gott unsere Lebensbedingungen: Geburt und Wachstum, Familie und Beziehungen, Feste und Abschiede, Glück und Misslingen, Krankheit und Tod.

Weihnachten bedeutet: Das menschliche Leben ist liebenswert

Gott hat in Jesus unsere menschliche Lebenswirklichkeit gewählt und bejaht. Das Menschsein selbst ist also etwas Positives, Schönes, Wertvolles. Wenn Gott ein Mensch wird, so wird das zur Ermutigung: Ich kann mein Leben mit all seinen Fasern bejahen lernen. Ich kann mich selbst und mein Leben immer mehr annehmen.

Natürlich, es gibt Situationen, in denen ich zweifle, ob mein Leben wirklich lebenswert ist. Oder ob ich wirklich liebenswert bin. Wenn ich dann aber an Weihnachten in die Krippe schaue, dann berührt mich, dass Gott aus Liebe zu uns ein Mensch geworden ist. Und dass daher mein Menschsein liebenswert ist mit allem, was dazugehört. Auch das Schwere und Dunkle hat einen Sinn. Und in allem Menschlichen wohnt ein göttlicher Glanz.

Mach es wie Gott: Werde Mensch!

Weihnachten bedeutet: Gott hat sich auf das Abenteuer des Menschseins eingelassen. Das Leben mit seinen Höhen oder Tiefen und selbst mit seinen Abgründen wird zum Ort, wo Gott sagt: „Ich bin da. Ich bleibe bei dir. Und ich trage Sorge, dass dein Leben nicht ins Leere läuft.“

Wenn Gott mitten in mein Leben und in meinen Alltag eintritt, dann wird dies zum Anstoß, mich meinerseits für das Leben anderer zu interessieren – und zwar im Sinne des „inter-esse“: „dazwischen sein“, mich einlassen. Und dies insbesondere auf Menschen, die auf der Schattenseite des Lebens stehen, die vereinsamt oder verarmt sind.

Touristen kommen, schauen sich ein wenig um – und gehen weiter. Wenn ich mich aber von der Menschwerdung Gottes berühren lasse, dann schaue ich genau hin. Ich versuche, das Schöne und Wunderbare von anderen Menschen wahrzunehmen und mich daran zu freuen. Aber auch ihre Not zu spüren. So wird Weihnachten zur Einladung zur Solidarität mit allen Menschen: Dass wir uns gegenseitig stärken und stützen. Und dass wir gemeinsam das Menschsein feiern lernen.

Andreas Knapp
Artikel von Andreas Knapp
Priester und Dichter
Gehört zur Ordensgemeinschaft der "Kleinen Brüder vom Evangelium". Tätig als Putzkraft, Joghurt-Verkäufer, Saisonarbeiter, Gefängnisseelsorger und in der Flüchtlingshilfe. Andreas Knapp ist einer der bekanntesten christlichen Lyriker im deutschsprachigen Raum.