„Ich sehe die Gitterstäbe nicht mehr!“
Kolumnist Andreas Knapp erzählt von einer Begegnung mit einem Gefangenen, die ihm die Augen geöffnet hat.
Schlüssel rasseln und meine Schritte hallen wider in einem langen, kahlen Flur. Hinter mir fallen die Gittertüren wieder ins Schloss. Schließlich betrete ich die Zelle, in der ich seit vielen Wochen einen Gefangenen besuche. Heute überrascht er mich mit folgendem Satz: „Monatelang schaute ich durch das Fenster, und mein Blick blieb an den Gitterstäben hängen. Aber seit ein paar Tagen sehe ich die Gitterstäbe nicht mehr. Ich sehe wieder den Himmel!“
Diese Bemerkung eines Gefangenen in der Vollzugsanstalt Leipzig ging mir nach: Ja, auch ich kenne ähnliche Erfahrungen! Auch in meinem Leben gibt es Situationen, in denen ich nicht mehr weitersehe. Ich starre nur noch auf das, was mich derzeit einengt, verletzt oder ärgert. Ich bin befangen in meiner Wahrnehmung, gefangen in meiner Fixierung. Wenn ich mich etwa von einem anderen ungerecht behandelt fühle, dann kann mein Ärger zu einem Gefängnis werden: Ich drehe meine inneren Runden und kreise in meiner Erinnerung unaufhörlich um ein kränkendes Wort oder einen ungelösten Konflikt.
Den Blickwinkel weiten
Gekränkt zu werden schmerzt. Und schnell kann es passieren, dass wir diese Kränkung gedanklich wieder und wieder durchkauen. Doch eine solche Fixierung engt das Gesichtsfeld ein. Man kann nicht mehr wahrnehmen, dass das Leben auch Schönes bereithält. Dass es noch andere Menschen gibt, die einem freundschaftlich verbunden sind. Und dass sogar die Person, die einen verletzt hat, vielleicht noch andere Seiten hat und nicht nur einfach böse ist.
Natürlich gilt es, sich der schmerzenden Kränkung zuzuwenden. Die eigenen dunklen Gefühle und Gedanken, in denen man gefangen ist, zu betrachten – so wie der Häftling einige Zeit auf die Gitter seiner Zelle gestarrt hat. Aber dann den Blick auch zu weiten, denn es gibt noch eine andere Wirklichkeit: Jenseits der Gitter öffnet sich immer noch der weite Himmel. Es gibt immer noch Sonnenschein und Regen, Frühling und Herbst, tragende Beziehungen und Glück.
Wenn es gelingt, den Blick nicht mehr auf das Engmaschige zu fixieren, kann man – wie bei einem feinen Fliegengitter – durchblicken und weitersehen. Ich sehe das kleinkarierte Muster nicht mehr, und es kommt auch wieder das in den Blick, was jenseits liegt: Ich schaue über das Mich-Einengende hinaus und kann das Schöne und Wertvolle in meinem Leben und auch in anderen Menschen wieder wahrnehmen.
[inne]halten - das Magazin 15/2025

Meditation im Museum
Im Berliner Bode-Museum kann man seit einiger Zeit meditieren. Heilendes Museum heißt das Konzept. Zwischen Jesusfiguren, Madonnen und Buddhas sitzen Menschen auf Kissen, um einen Moment lang mit sich und der Welt eins zu sein.
Lesen Sie im [inne]halten-Magazin unseren Themenschwerpunkt und weitere Geschichten und Berichte aus dem kirchlichen Leben.
Weitersehen und weiter gehen
Als ich die Gefangenen nach einem Gottesdienst im Gefängnis einmal fragte, warum sie als Nichtgetaufte denn zur Andacht kommen, antwortete einer: „Hier kommt man auf andere Gedanken.“ Ist das nicht eine wunderbare Definition von Religion oder Gebet? Wir kleben nicht fest an unseren Sorgen oder Ängsten. Wir kreisen nicht unaufhörlich um die eigenen Probleme und quälen uns nicht mit einem sinnlosen „Was wäre es gewesen, wenn ...“
Gerade Gefangene, die in ihrer Zelle sich selbst ausgeliefert und vielleicht von Schuldgefühlen gepeinigt sind, erleben es als erlösend, dass der Gottesdienst sie auf andere Gedanken bringt. Es geht nicht um eine billige Ablenkung oder Flucht vor sich selbst. Vielmehr finden sie wieder eine Perspektive, einen Durchblick, der sie auf eine andere Zukunft hoffen lässt. Sie müssen nicht Gefangene ihrer Vergangenheit bleiben, sondern können spüren, dass noch ein anderes Leben auf sie wartet.
Hoffnung öffnet uns Menschen eine innere Tür. Wir brauchen nicht bei dem stehen zu bleiben, was an Negativem passiert ist. Und wer weitersehen kann, der kann auch weiter gehen. Jenseits unserer Mauern und Begrenzungen können wir ein Stück Himmel erahnen: Versöhnung mit unserer Geschichte und Mut für einen neuen Anfang.