Mirjam Pressler – eine solidarische Schriftstellerin
Am 10. Juli wird zum ersten Mal der „Tag der Solidarität. Mit Juden und Israel“ begangen. In den Büchern einer der bedeutendsten deutschsprachigen Jugendbuchautorinnen ist dieser Appell ständig gegenwärtig – und das mit höchstem literarischen Anspruch.

10. Juli 1945: Dresden zeigt noch die frischen Wunden der Zerstörung, Folge einer menschenverachtenden und zerstörerischen Ideologie. An diesem Tag ist in der Ruinenstadt an der Elbe die erste Theateraufführung nach dem Waffenstillstand zu sehen: Es ist ein beredtes Stück, ein Klassiker: Lessings „Nathan der Weise“. Der Verein „Demokratie und Information“ (DEIN) hat den 10. Juli deshalb als „Tag der Solidarität. Mit Juden und Israel“ ausgerufen. Zahlreiche christliche Initiativen und jüdische Gemeinden haben sich diesem Aufruf angeschlossen. In Zukunft soll dieser Tag jedes Jahr am 10. Juli begangen werden.
Unter anderem schlagen die Veranstalter vor, sich dann mit „Shalom“ zu grüßen oder eine Israelfahne aus dem Fenster wehen zu lassen. Vielleicht wären diese kleinen Gesten auch bei Mirjam Pressler in Landshut zu hören und zu sehen gewesen. Dort hat die vielfach ausgezeichnete Kinder- und Jugendbuchautorin ihre letzten zehn Lebensjahre verbracht und ist dort 2019 gestorben.
Aufgewachsen in Verlorenheit und Einsamkeit
In jedem Fall war Mirjam Pressler eine solidarische Schriftstellerin. Solidarisch mit dem Judentum und mit jedem Menschen, den inneres oder äußeres Elend bedrängt. „Mirjam ist ja selbst in großer Verlorenheit und Einsamkeit groß geworden“, erzählt ihr langjähriger Lektor und literarischer Wegbegleiter Frank Griesheimer. „Darum hat sie vor allem Solidarität mit Kindern und Jugendlichen geübt, die sie in ihrer Not und Sprachlosigkeit so gut verstanden hat.“
Die 1940 geborene Mirjam Pressler war das Kind einer jüdischen Mutter und wuchs in Pflegefamilien und Heimen auf. „Trotzdem hat sie keine Problembücher geschrieben, wie sie zu Beginn ihrer literarischen Arbeit üblich waren“, erläutert Griesheimer. „Bücher, die ein gesellschaftliches Problem aufgreifen, für das es dann eine gesellschaftliche Lösung geben muss.“ Pressler habe dagegen gewusst, „dass es Nöte gibt, die nicht zu lösen sind, aber bei denen es hilft, sie zu beschreiben“.
Junge Generationen vor den Fehlern der älteren schützen
Ihre Romanfiguren fänden zudem „Rückzugsorte oder Beziehungen, die ihnen Stärke für ein schwieriges Leben verleihen“. In ihren Büchern sei immer „der Wille zum Glück da, der Kraft gibt, aber dieses Glück ist unsicher und bleibt nicht“. Das macht für Griesheimer Presslers „schriftstellerisches Genie“ aus. Dabei habe sie ihre historischen Stoffe immer mit der Gegenwart verbunden: „Sie hat ihre Bücher auch deshalb geschrieben, um eine junge Generation vor den Fehlern der älteren Generationen zu schützen.“
Natürlich komme von daher auch ihre lebenslange Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, etwa in den Romanen „Malka Mai“, „Shylocks Tochter“ oder „Golem, stiller Bruder“. Sie drücken Mitgefühl und Solidarität mit einer verfolgten Minderheit für eine junge und Orientierung suchende Leserschaft aus. „Leider ist dieser literarische Platz von Mirjam Pressler bis jetzt leer geblieben, da ist niemand nachgewachsen“, bedauert Griesheimer.
Jemand wie Pressler fehlt in der gegenwärtigen Jugendliteratur
Diese Meinung teilt er mit Jana Mikota. Die Literaturwissenschaftlerin forscht an der Universität Siegen schwerpunktmäßig über Kinder- und Jugendliteratur und ist Expertin für das Werk Mirjam Presslers: „Jemand wie sie fehlt gerade jetzt auf dem deutschen Buchmarkt.“ Jemand, der sich mit dem Heranwachsen junger Menschen, der Shoah und der jüdischen Kultur auseinandersetzt: „Ihre Bücher eröffnen für junge wie ältere Leser Perspektiven auf Menschen in Israel, die so nicht in der Tagesschau zu sehen sind.“
Besonders hebt Mikota Presslers Neuübersetzung der Tagebücher von Anne Frank hervor, die sie durch ihre umfangreichen Recherchen ergänzt und über die sie später eine Biografie verfasst hat. „Dadurch hat Mirjam Pressler die Grundlage für viele englische Publikationen geschaffen und das Anne-Frank-Bild verändert“, erläutert Mikota, „denn sie hat Anne Frank als pubertierendes Mädchen mit ihren Konflikten ernst genommen.“ Das Thema „Beschädigte Kindheit und Jugend“ habe Mirjam Pressler nie losgelassen.
Eine große Schriftstellerin ohne Klischees
Schließlich wusste sie, „was es heißt, keine behütete Kindheit zu haben, und hat sich mit ihrer jüdischen Identität auseinandergesetzt“. Dabei habe Pressler als „große Schriftstellerin“ keine einfachen Klischees verwendet: „Schubladendenken ärgerte sie. In ihren Büchern kommen Nazi-Offiziere vor, die gebildete Gesprächspartner und gleichzeitig Mörder sind.“
Die Romane von Mirjam Pressler stellten stets „existentielle Fragen“, seien „vielstimmig“ und nach wie vor für Jugendliche wie Erwachsene mit Gewinn zu lesen, so Mikota. Welches Buch sie besonders empfiehlt? Da zögert die Expertin für Jugendliteratur lange: „Eigentlich jedes, aber vielleicht ist jetzt „Nathan und seine Kinder“ von 2009 besonders wichtig.“
Solidarität mit Nathan dem Weisen
Darin greift Pressler das berühme Drama Lessings auf und behandelt es für heutige Leser in Romanform. Ihre Töchter hatten das aus dem 18. Jahrhundert stammende Werk in der Schule durchgenommen und standen etwas ratlos davor. Pressler wollte dieses wichtige Drama für junge Menschen zugänglicher machen. Eine Geste der Solidarität mit der Botschaft des Friedens, der Nächstenliebe und der Toleranz in diesem Werk. Mit gutem Grund war es am 10. Juli 1945 das erste Theaterstück, das in Dresden nach der NS-Diktatur, dem millionenfachen Judenmord und den verheerenden Kriegszerstörungen aufgeführt wurde.