Kolumne
Mensch, wundere dich!
Manchmal sollten wir losziehen, um das Staunen wieder zu erlernen, empfiehlt Frank Berzbach.
Die Fähigkeit der Kinder
Der Fußweg vom Kölner Südbahnhof bis zum Barbarossaplatz ist kurz und ziemlich schäbig. Für die Kurzstrecke brauchte ich einmal zusammen mit meiner kleinen Tochter dennoch über eine halbe Stunde. Ich hatte mir vorgenommen, mich ihrem Tempo anzupassen. Was für mich nur eine lästige und auch hässliche Durchgangszone war: Für sie war es ein großes Abenteuer. Sie blieb alle paar Meter stehen und staunte!
Der Fluch der Gewohnheit
Ein französischer Stadtsoziologe prägte den Begriff der „Nicht-Orte“: Parkhäuser und Brücken, lange Flure, Flughäfen und Bahnhöfe – Orte, die nur eine Funktion haben: Wir durchqueren sie schnell, um woanders hinzugelangen. Wir nehme sie kaum wahr. Der tägliche Weg zur Arbeit, die Strecken, die wir gut kennen, manchmal sogar der eigene Hausflur werden für Erwachsene zu unsichtbaren Arealen.
Kinder hingegen kennen gar keine Nicht-Orte, und sie erleben dadurch mehr. Sie haben das Staunen über Selbstverständliches nicht verlernt. Meine Tochter zeigte auf eine Pfütze und fand sie schön. Die Farbe eines abgerissenen Plakates gefiel ihr. Und auch, auf welche Art der Riss dem Bild einen anderen Sinn gab, darunter kam nämlich ein anderes zum Vorschein. Den Verkehrslärm unter der dunklen Unterführung fand sie „wie in einem Film“, und fast wäre sie in einen zwielichtigen Spielsalon gelaufen, weil dort die Geldspielautomaten so schön blinken. Wer so viele „Blinkelichter“ habe, müsse doch sicher nett sein. Sie wunderte sich darüber, dass jemand in einem alten Pappbecher nicht Kaffee hat, sondern sein Kleingeld sammelt. „Macht einen Geld auch wach?“ Sie fand es witzig, dass fünf Autos der gleichen Farbe hintereinander parken und die Fahrer gar nicht aussteigen – ein Taxistand. Dann sprang sie über die Fugen der alten Pflastersteine, darauf zu treten bringt natürlich Unglück!
Selbst mir war der Weg nicht mehr langweilig. Mir fiel nämlich auf, dass das alles mir gar nicht mehr auffiel. Die Gewohnheit, die Eile – sie führen dazu, dass wir nicht mehr staunend durch die Welt laufen. Alles schon gesehen, wir wissen über alles Bescheid. Oder auch nicht.
Gläubiges und ungläubiges Staunen
Vielleicht gibt es zwei Arten des Staunens. Das ungläubige Staunen wird geweckt, wenn wir überrascht werden. Auf einem meiner typischen Wege zwischen St. Pauli und Altona ist seit langer Zeit eine Baustelle, ich habe mich längst an sie gewöhnt. Ich hatte mir vorgestellt, hier werde über Monate einfach etwas an der Kanalisation erneuert. Letzte Woche aber war alles fertig und ich staunte. Die Straße ist nun verkehrsberuhigt, schön bepflanzt und ein neuer Fahrradweg ist angelegt. Ein ganz neuer, fußgängerfreundlicher Ort ist entstanden. Das hatte ich nicht erwartet!Der Alltag kann uns allerdings auch zum Staunen bringen, wenn nichts Außergewöhnliches geschieht. Vielleicht brauchen wir ein regelrechtes Trainingsprogramm, um das gläubige Staunen über Gewöhnliches wieder zu erlernen. Neulich las ich von buddhistischen Mönchen, die abends ihre Teeschalen fein säuberlich neben ihr Bett stellen im Bewusstsein, das Leben ende mit dem jeweiligen Tag. Das morgendliche Erwachen sehen sie als Glück der Wiedergeburt. Jeder Morgen ist somit ein Wunder! Buddhisten staunen über das Glück, als Mensch wiedergeboren zu werden. Das ist sicher eine drastische Sicht. Doch sie gibt dem, was viele als lästig erleben – der Wecker klingelt –, einen neuen Rahmen. Und so wird der Tagesbeginn zu etwas, über das wir erfreut staunen können: Schon wieder wird uns ein Tag auf diesem Planeten geschenkt.
Vielleicht könnte man diese Art, die Welt und die Dinge zu sehen, als gläubiges Staunen bezeichnen. Diese Variante sucht im Alltäglichen, in Nicht-Orten und vielleicht auch in Nicht-Ereignissen das Wunderbare. Die Fähigkeit, Gott in allem zu finden, ist eine aktive und sogar kreative Angelegenheit. Ist es nicht erstaunlich, dass wir ihn in allem finden können?
Kinder als Lehrmeister?
„Seid wie die Kinder.“ – Diese biblische Idee ist dafür gar nicht so schlecht. Ihr naiver Blick reicht sicher nicht aus für die Herausforderungen des Erwachsenenlebens; ihre Art zu staunen liegt auch an entwicklungsbedingten Wahrnehmungseinschränkungen. Aber von Kindern das Staunen wieder zu erlernen, sorgt für Dankbarkeit gegenüber einem Dasein, das gar nicht langweilig werden kann.
Es ist alles da, wenn wir es staunend erkennen. Jeder Mensch, die Natur, die Dinge – sie sind immer wieder anders. Und ist es nicht schon ein Wunder, dass sie überhaupt da sind? Nichts ist selbstverständlich, vieles wird zum aufregenden Geschenk, wenn wir es wieder sehen.