Kolumne
Liebe lässt tief blicken
Andreas Knapp schließt die Zellentür auf, um einen Gefangenen zu besuchen. Diese Begegnung wird für ihn zu einer Schlüsselerfahrung, was das Menschliche im Menschen ist.
Diese Begegnung werde ich nie wieder vergessen: Der Gefängnispfarrer hatte mir den Antrag eines Gefangenen, der um einen Besuch bittet, in die Hand gedrückt. Jetzt stehe ich vor der Zelle und klopfe mit dem Schlüssel gegen die Metalltür. Auf ein Signal von innen drehe ich den Schlüssel im Schloss. Dann öffne ich die Tür. Vor mir steht jemand - aber ich sehe ihn nicht! Das Gesicht des Gefangenen ist über und über mit Piercings gespickt: Augenbrauen, Wangen, Nase, Lippen, Kinn. Verschiedenste Metalle und Legierungen, in der Form von Dornen und vor allem Sicherheitsnadeln. 37 Stück, wie ich später erfahre.
Einen Moment lang bin ich irritiert und weiß nicht, wo ich hinschauen soll. „In die Augen!“, höre ich eine innere Stimme. „Schau ihm in die Augen.“ Und dann sehe ich nicht mehr all diese Nadeln und Metallspitzen. Ich schaue meinem Gegenüber in die Augen. Und jetzt sehe ich den Menschen.
Was ist da passiert? Vor mir steht ein Mensch – und ich sehe ihn nicht. Passiert das nicht öfter? Ich sehe die anderen oft nur in einer Funktion: Die Polizistin in ihrer Uniform, den Steuerberater, eine Lehrerin, den Müllarbeiter … Und auch ich selbst finde mich oft in einer Rolle: als Arbeitnehmer, als Gefängnisseelsorger, als Referent. In meinen Rollen muss ich funktionieren und dazu sind bestimmte Schemata hilfreich. Gerade in der Öffentlichkeit kann ich mein Innerstes nicht immer offen zeigen. Ich trage zwar keine Sicherheitsnadeln im Gesicht. Aber auch ich habe mir meine Schutzmechanismen zugelegt, diskreter und raffinierter – und darum auch gar nicht so leicht zu durchschauen.
Einander begegnen
Wir Menschen brauchen Rollen und Masken zu unserem Schutz. Doch diese können so dominant werden, dass nur noch die äußere Funktion wahrgenommen wird. Und dann gibt es diese überraschenden Momente: Ich habe im anderen den Menschen gesehen. Etwa auf einer Behörde, wo mit ich reinen Formalitäten gerechnet hatte: Die Angestellte hat mich total menschlich behandelt. Eine Politikerin, ein Bischof – und ich bin nach der Begegnung ganz angetan: Der war so menschlich. Oder in der Begegnung mit Fremden, mit Menschen einer anderen Religion: Wir sind uns begegnet, von Mensch zu Mensch.
Der Mensch: ein Mängelwesen
Irren ist menschlich. Fehlerhaft sein, kleinere oder größere Macken haben, das ist menschlich. Eine Welt dagegen, in der alles perfekt programmiert wäre, würden wir als unmenschlich erleben. Und wir wehren uns dagegen, wie eine Maschine oder ein Computer fehlerfrei funktionieren zu müssen.
Dass wir Menschen fehlerhaft sind, weist darauf hin, dass uns immer noch etwas fehlt.
Bereits biologisch betrachtet ist der Mensch ein Mängelwesen. Er ist bedürftig nach Licht, Nahrung und Sexualität, nach Nähe, Wissen und Beziehung. Es gibt das namenlos Weiche im Menschen, das verstanden und getröstet werden will. Das Kind im Mann und in der Frau, das umarmt und zärtlich geliebt werden will. Kurz gesagt: Das Menschliche in uns Menschen wurzelt darin, dass wir bedürftig sind – und darum berührbar.
Manchmal haben wir Angst, unsere Sehnsucht nach Nähe oder Verstehen zu zeigen. Wenn eine Person oft enttäuscht wurde, dann versteckt sie sich hinter Masken und Rollen. Sicherheitsnadeln im Gesicht können sagen: Komm mir nicht zu nah! Der Blick in die Augen aber kann jene Bedürftigkeit zeigen, die uns menschlich macht: den Hunger nach Liebe, die Sehnsucht nach Glück, eine namenlose Traurigkeit. Wir sind auf mehr Liebe angewiesen, als wir uns verdienen können. Dieser unstillbare Durst nach mehr macht uns Menschen zu Menschen!
Ein liebender Blick
Jesus gelingt es immer wieder, hinter der Maske eines Gesichtes das Menschliche zu sehen. Er überwindet den Blick auf das Äußerliche, das Menschen abstempelt: Der ist ein Zöllner, die ist eine Prostituierte, der ist ein Ausländer. Jesus schaut tiefer und nimmt wahr, was die Einzelnen brauchen. Er spürt den Durst nach Liebe, den Hunger nach Gemeinschaft, das Bedürfnis nach Vergebung. Indem Jesus das Menschliche sieht, wird für die anderen das Göttliche sichtbar: Es zeigt sich als Versöhnung, als Heilung, als Freundschaft.
Im Hebräischen wird das Wort „jada“ sowohl für „erkennen“ und „sehen“ als auch für „lieben“ verwendet. Wenn es im Evangelium heißt: „Liebt einander!“, dann könnte man das auch übersetzen mit: „Schaut einander an!“ Wir Menschen brauchen ein solches Ansehen. Dann lässt sich erfahren, was Hilde Domin so wunderbar ausdrückt: „Es gibt dich, weil Augen dich wollen, dich ansehen und sagen, dass es dich gibt.“