Warum Mut und Angst zusammengehören: Hinweise für ein beherztes Leben
Mut tut gut! Doch es fällt schwer, mutig zu sein, wenn einen die Angst hindern will, etwas zu wagen. Die Philosophin, Theologin und Ordensfrau Melanie Wolfers erzählt, warum ihr der Rat so wichtig ist: „Tu immer das, wovor du ein wenig Angst hast.“ Sie erläutert, warum Mut und Angst zusammengehören und wie sich Mut trainieren lässt.

„Tu immer das, wovor du ein wenig Angst hast!“ Diesen Satz hat mir als junges Mädchen ein guter Freund unserer Familie gesagt - der vor vielen Jahren verstorbene Jesuit Georg Mühlenbrock. Wenn ich heute vor etwas zurückscheue oder Angst nach mir greift, dann versuche ich, seinen Rat zu beherzigen. Und erfahre dabei immer wieder: Mut lässt sich trainieren ähnlich wie ein Muskel, der durch tägliches Training an Kraft zunimmt.
Mut und Angst brauchen einander
Ein verbreitetes Missverständnis lautet: Mut und Angst schließen einander aus. Doch das ist in zweifacher Hinsicht falsch.
- Angst gehört einfach zum Leben – auch wenn wir es lieber anders hätten. Denn selbst wenn wir uns um größtmögliche Sicherheit bemühen, bleiben wir körperlich und seelisch verletzbar; und ebenso die Menschen, die wir lieben. Schöne Momente vergehen unwiederbringlich und alles, was wir aufgebaut haben, ist zerbrechlich.
- Wir können uns glücklich schätzen, dass Angst immer mit an Bord unseres Lebens bleibt, denn Angst schützt und hilft zu leben. Ähnlich wie Kontrolllämpchen im Auto macht sie auf eine Gefahr aufmerksam. Sie zeigt an, dass etwas nicht in Ordnung ist, und will eine Reaktion provozieren. Wir verdanken es also (auch) unseren Ängsten, dass wir am Leben sind – denn die Angst ist es, die davor bewahrt, sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen oder leichtsinnig den Job oder eine Beziehung zu gefährden.
Das Problem mit der Angst beginnt, wenn sie zu vorlaut wird. In einem Bild ausgedrückt: Unser Inneres gleicht einem Orchester, in dem sich verschiedene Stimmen zu Wort melden: unterschiedliche Gefühle, Gedanken und Impulse… Die Angst wird zu vorlaut, wenn sie nicht mehr eine Stimme im inneren Orchester ist, sondern permanent die erste Geige spielt. Oder gar den Dirigentinnenstab in die Hand nimmt und den Takt vorgibt. Wenn die Angst sich immer wieder mit Einwänden meldet – und zwar nicht, weil das, was man vorhat, leichtsinnig oder gar lebensgefährlich wäre. Sondern weil sie etwa vor den Kosten einer Entscheidung schützen will: vor schmerzhaften Abschieden; vor Ungewissheit und Unsicherheit oder vor dem Risiko, Nachteile in Kauf nehmen zu müssen. Eine solche Angst hindert am Leben!
All dies zeigt: Mut und Angst bilden eine innere Spannungseinheit. Nur in ihrem Zusammenspiel können sie einen schützen einerseits vor Tollkühnheit und unverantwortlichem Leichtsinn. Und andererseits davor, sich von Angst sklavisch lähmen oder in einen Käfig sperren zu lassen.
Mut ist, wenn Anderes wichtiger wird als unsere Angst
Der Zusammenhang von Mut und Angst wird auch deutlich in der interessanten Redewendung „um Mut ringen“: Wer ringt da mit mir? Oder was ringt da in mir? Etwa, wenn ich mich frage: „Mache ich den ersten Schritt auf meinen Partner zu, in der Hoffnung, dass wir wieder neu zueinander finden? Oder bleibe ich in Deckung, um nicht erneut verletzt zu werden?“ „Stehe ich klar zu meiner Meinung? Oder passe ich mich an, um nicht anzuecken?“
Ringen wir um Mut, gleicht das einem inneren Tauziehen: Auf der einen Seite zerren Ängste. Auf der anderen Seite zieht uns etwas an, das uns wichtig ist. Wie das Ringen entschieden wird, dazu gibt die Etymologie des Wortes „Mut“ einen Hinweis. „Mut“ leitet sich vom indogermanischen „mo“ ab und bedeutet „starken Willens sein, nach etwas trachten, heftig nach etwas streben“.
Die Mutige hat also ein Ziel vor Augen, für das sie sich stark macht. Der Mutige hat ein Ziel im Blick, für das er sich in die Waagschale wirft. Mut ist, wenn Anderes wichtiger wird als unsere Angst.
Deutlich steht mir eine Frau vor Augen, die in einem Seminar von sich sagte, dass sie um jeden Konflikt einen großen Bogen mache. „Aber“, so fuhr sie fort, „wenn es um meine Kinder geht, dann entwickle ich den Mut einer Bärin! Ich stelle mich vor meine Kinder und kämpfe für sie.“ Der Wert, ihre Kinder zu schützen und für sie einzutreten, ist der Mutter so wichtig, dass sie trotz ihrer Angst vor Konflikten die Auseinandersetzung wagt. Ihr Mut speist sich daraus, dass ihr Anderes – nämlich ihre Kinder - wichtiger wird als ihre Angst.
Der Angst die Stirn bieten und den Mutmuskel trainieren
Was hilft, wenn man um Mut ringt und die Angst zu vorlaut wird? Drei Hinweise:
1. Erinnern Sie sich an Situationen, in denen Sie mutig aufgetreten sind. Und an Menschen, die Ihnen – und sei es auch „nur“ durch einen aufmunternden Blick – den Rücken gestärkt haben. Eine solches Erinnern stärkt das Vertrauen in Sie selbst, dass Sie auch der aktuellen Herausforderung gewachsen sind. Und es vertieft Ihr Gefühl der Verbundenheit mit anderen – und dieses Empfinden mindert Angst.
2. Führen Sie sich Sackgassen vor Augen, in welche die Angst einen hineinmanövrieren kann. Etwa wenn man aus Feigheit Ja sagt, obwohl man Nein meint – und sich dadurch selbst überfordert. Oder wenn Angst einen hindert, eine überfällige Entscheidung zu treffen. Es kann Ihre inneren Widerstandskräfte mobilisieren, wenn Sie sich den Preis eines angstbestimmten Lebens vor Augen führen. Nach dem Motto von Viktor Frankl: Man muss sich von sich selbst nicht alles gefallen lassen.
3. Den Mutmuskel trainieren. Mut ist keine Eigenschaft, die vererbt wird wie die Augenfarbe oder Körpergröße. Mutig werden wir allein durch mutiges Handeln! Immer dann, wenn wir unserer Angst einen vielleicht noch so kleinen Freiheitsspielraum abringen und zu uns stehen, werden wir ein Stückchen mutiger und freier. Und darin liegt zugleich eine Quelle, aus der die Selbstachtung entspringt: Dass wir nicht klein beigegeben haben, sondern über uns hinausgewachsen sind. All dies stärkt den Mut, sich in Zeiten der Unsicherheit auf echtes Neuland vorzuwagen. Oder mit den Worten von Georg Mühlenbrock gesagt: Tu immer das, wovor du ein wenig Angst hast!
Mut ist Angst, die gebetet hat
Viele Glaubende sehen Angst als ein Hindernis auf ihrem Weg zu Gott. Sie meinen, ihre Angst sei ein Zeichen dafür, dass sie zu wenig glauben und vertrauen. Es enttäuscht und verunsichert sie, dass selbst das Gebet ihre Furcht nicht auflöst, und sie fragen sich: „Was mache ich bloß falsch beim Beten?“
Die Bibel spricht da eine ganz andere Sprache: Die Psalmen, das wichtigste biblische Gebetbuch, sind gewoben aus Klagerufen und angstvollem Schreien zu Gott – wie auch aus Jubelliedern und dankbarem Vertrauen. Glaube und Angst schließen einander nicht aus! Auch Jesus hat dieses erfahren. Als er ahnt, dass ihm ein gewaltsames Ende droht, packt ihn die Angst. Er schreit zu Gott. Er nimmt seine Angst ins Gebet, lässt sie zu, spricht sie aus. Durch all das wird Jesus nicht von seiner Angst befreit. Wohl aber, so erzählt das Lukas-Evangelium, wird er fähig, mit und trotz seiner Angst seinen Weg weiterzugehen (vgl. Lukas 22,39-46). Er bleibt sich und seinem Gott treu. Mut ist Angst, die gebetet hat, formuliert Corrie ten Boom, eine niederländische Widerstandskämpferin im Dritten Reich.
Viele Menschen erfahren ihren christlichen Glauben als einen Resonanzraum, in dem ihre Angst zur Sprache kommen kann. Die Angst vor einer Operation, einem Examen, dem Sterben des Partners, dem Verlust des Arbeitsplatzes. Aber auch die Furcht vor Krieg und Terror, vor Hass und Gewalt. Und manchmal stellt sich im Gebet das leise Ahnen ein, dass ich mit meiner Angst nicht allein bin. Als ob in der Tiefe des eigenen Herzens ein Licht schimmern würde. Als ob ich von innen her liebend angeschaut würde. Das weckt Vertrauen und Mut.