Veronika beschließt zu leben: Wenn dein Vater katholischer Priester ist
Wenn es nach der katholischen Kirche geht, dann dürfte es Veronika Egger nicht geben. Die 46-jährige ist Tochter eines katholischen Priesters. Diese Tatsache hat ihr Leben geprägt.

Veronika Egger liebt den Wald. Schon immer. Als Kind war er ihre Spielwiese – nach der Schule ging es direkt dorthin. Und als Jugendliche war sie weiter fasziniert: Sie beschäftigte sich viel mit Naturthemen, legte Herbarien an. Mittlerweile ist er auch Teil ihres Berufs als Gästeführerin im Bayerischen Wald. Gleichzeitig war der Wald aber auch immer ihr Rückzugsort. Hier fühlte sie sich wohl. Sie spürte eine „heilsame Wirkung“. Der Wald nimmt dich so, wie du bist, beschreibt es Veronika Egger: „Du musst Dich nicht verstellen“.
Das Gefühl nicht so angenommen zu sein, wie sie ist, hat die heute 46-Jährige den Großteil ihres Lebens begleitet. Vom Wald umgeben wuchs Veronika in Auerschmide, einem kleinen Weiler in der Nähe von Irschenberg in Oberbayern auf. Dort lebte sie mit ihrer Mutter in einer kleinen Wohnung. Ihr Vater kam sie regelmäßig besuchen. Er war ein „Sonntagspapa“. Oder wenn man es genau nimmt, ein „Dienstagspapa“. Denn an den Sonntagen musst er arbeiten: Ihr Vater war katholischer Priester..
Ein Geheimnis hüten, das keins war
Ihre Eltern hatten sich in der Kirchengemeinde kennengelernt und sich ineinander verliebt. Eine Liebe, die nicht sein durfte und daher nur im Verborgenen stattfand. Niemand sollte von den Beiden erfahren. Daher gab es nur heimliche Treffen – nicht auffallen in der Öffentlichkeit. Für Veronika hat das alles keine Rolle gespielt. Sie nannte ihren Vater selbstverständlich „Papa“ und er holte sie auch vom Kindergarten ab. Ihr war nicht bewusst, dass das etwas ist, was nicht sein darf. Erst als sie in die Schule kam, änderte sich alles. Auch hier erzählte sie zunächst offen, wer ihr Vater war. Nicht gerade zum Gefallen des Schuldirektors. Der rief daraufhin ihre Mutter zu sich. Ab dem Zeitpunkt sollte Veronika nicht mehr von ihrem Vater erzählen. Heute sieht sie darin den ersten Wendepunkt in ihrem Leben: „Mein ganzes Gefüge an Vertrauen und Offenheit hat von dem Tag an nicht mehr funktioniert.“. Alle wussten, wer ihr Vater war, und plötzlich sollte es ein Geheimnis sein. „Völlig irre“ sei das gewesen.

In der Schule wurde sie zur Außenseiterin, sie fühlte sich gemobbt. Gerne wäre sie als junges Mädchen auch im Trachtenverein gewesen. Doch ein „Priesterkind“ war in den 90er-Jahren da nicht erwünscht. Direkt gesagt hat das niemand, stattdessen wurden ihre angeblich zu kurzen Haaren als Grund vorgeschoben. Veronikas Leben war von nun an von Schweigen und Lügen geprägt. Scheinbar unverfängliche Fragen wie „Was macht dein Vater eigentlich beruflich?“ brachten Veronika in Konflikte. Sie fühlte sich verantwortlich dafür, ihre Familie zu schützen „dass mein Papa und meine Mama keine Probleme bekommen“
Gesundheit litt unter den Lügen
Die Situation war für das junge Mädchen sehr belastend. Das spürte sie auch körperlich. Oft war sie krank. Als Teenager wurden ihre Haare immer dünner. Eines morgens wachte sie auf und auf ihrem Bett lagen Büschel von Haaren. Immer mehr fielen ihr aus! Eine „Katastrophe“. Veronika fühlte sich in der Schule ohnehin von Mitschülern und Lehrern gemobbt und durch den Haarausfall wurde sie noch unsicherer, ging noch weniger gern zur Schule. Erst wollte sie den Haarausfall verstecken, aber irgendwann ging das nicht mehr. Sie bekam eine Perücke. Das führte wiederum zu weiteren bissigen Kommentaren an der Schule. Für Veronika hat es gefühlt „nicht mehr aufgehört“.
Die Diagnose: Kreisrunder Haarausfall. Der zeigt sich besonders oft bei Stress. Und Stress, ja - den hatte Veronika zweifellos. Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass ihre Krankheit etwas mit ihrem Dasein als Priesterkind zu tun haben könnte. Der Haarausfall läutete einen weiteren Wendepunkt in ihrem Leben ein. Bereits des zweiten!
In den Monaten, in denen sie eine Glatze hatte, beschloss Veronika nicht mehr zu schweigen. Fortan erzählte sie offen, wer ihr Vater ist. Sie verließ ihr schulisches Umfeld, wechselte die Schule und fand dort Anschluss. Auch ihre Haare wuchsen wieder.

Mit ihrem Vater hatte sie immer Kontakt. Sie trafen sich regelmäßig. Später kaufte er ein Haus im Bayerischen Wald, das er ihr und ihrer Mutter überschrieb. Die beiden sollten abgesichert sein – auch nach seinem Tod. Trotz der regelmäßigen Treffen blieb das Verhältnis zwischen Veronika und ihrem Papa aber immer distanziert. Ganz anders als zu ihrer Mutter. Er schwieg. Ist Konflikten aus dem Weg gegangen. Gefühle zeigte er nicht. Auch ihre Entscheidung, offen über ihn zu sprechen, kommentierte er damals nicht.
Ihr Vater sei immer jemand gewesen, der „Publikum“ brauchte. Er sei ein guter Netzwerker gewesen, habe viel organisiert. Gute Eigenschaften für einen Seelsorger. Doch als diese Aufgabe mit dem Alter wegfiel, habe er nicht viel mit sich anzufangen gewusst. Er sei einsam gewesen, so Egger. In der Zeit suchte er immer wieder die Nähe zu Veronika. Sie telefonierten jeden Tag. Für die 46-Jährige war das zeitweise auch anstrengend. Die Nähe, die er da wollte, hätte sie sich als Kind gewünscht. Nun konnte sie diese nicht erwidern. Und dennoch fühlte sie sich ihm gegenüber verantwortlich.
Nach dem Tod von Liebe ihres Vaters erfahren
In den letzten Monaten seines Lebens ging es ihm gesundheitlich schlecht. Immer wieder wurde er stationär im Krankenhaus behandelt. In derselben Klinik, in der er auch als Seelsorger gearbeitet hatte. Für Veronika und ihre Mutter war das immer ein Tabu-Ort gewesen. Nur selten und dann heimlich hatten sie ihn dort in früheren Zeiten besuchen dürfen. Kurz vor seinem Tod war das plötzlich anders. Ein kleiner Kreis an Menschen kümmerte sich um Eggers Vater, von Veronika nur gerüchteweise. Dennoch freuten sich fast alle, sie kennen zulernen. Gemeinsam haben sie die Situation getragen. Nicht um die Verantwortung auf die Tochter abzuwälzen, sondern um sie mit einzubeziehen. An seinem Wohn- und Wirkungsort angenommen zu sein, wurde für Veronika Egger zu einer sehr wertvollen Erfahrung. Trotz der Umstände habe ihr das gutgetan, sagt sie heute.
2019 ist ihr Vater gestorben. Nach seinem Tod hat sie erfahren, wie er anderen gegenüber über sie – seine Tochter – gesprochen hat. Andere erzählten Egger, wie stolz er auf sie war. So hat sie rückblickend von seiner Liebe erfahren, die sie während ihres Lebens nicht gespürt hat. Seine Beerdigung hat sie dann nicht als irgendein Gast besucht. Sondern als Tochter. Alle, die da waren, wussten das.