Zukunft
20.05.2024


Ein Parlament überwindet Grenzen

Anlässlich der Europawahl am 9. Juni beschreibt der leidenschaftliche Europäer Bernd Posselt (CSU) den geistigen Hintergrund der europäischen Einigung und ihre aktuelle Weiterentwicklung angesichts weltpolitischer Gefahren.

Die christlichen Staatsmänner, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Sechsergemeinschaft aus Westdeutschland, Frankreich, Italien und den Beneluxstaaten (Belgien, Niederlande, Luxemburg) ins Leben riefen, die der Ausgangspunkt der heutigen EU war, hatten nichts Triumphalistisches an sich. Die Nüchternheit Konrad Adenauers, der sich bereits 1926 der Paneuropa-Union anschloss und deren Gedankengut eines geeinten Europa auf der Grundlage einer deutsch-französischen Aussöhnung in den Mittelpunkt seiner Politik stellte, als er vor 75 Jahren zum ersten Bundeskanzler gewählt wurde, war sprichwörtlich. Sein Partner in Rom, Ministerpräsident Alcide De Gasperi, entstammte einem eher wortkargen Trientiner Bauerngeschlecht. Frankreichs Außen- und später auch Premierminister Robert Schuman aus Lothringen, dessen Seligsprechung derzeit im Vatikan anhängig ist, wurde schon zu Lebzeiten wegen seiner tiefen, aber sehr zurückhaltenden und diskreten Frömmigkeit der „Heilige im Straßenanzug“ genannt.

Diese herausragenden Persönlichkeiten verstanden sich in den Pionierjahren der europäischen Einigung, beim Aufbau einer übernationalen Gemeinschaft, schon deshalb besonders gut, weil ihre Arbeit die Antwort auf das nationalistische Pathos war, unter dem sie in zwei Weltkriegen und dazwischen zu leiden hatten. Ihnen waren darüber hinaus drei entscheidende Prägungen gemeinsam: Der Rheinländer Adenauer, der Welschtiroler De Gasperi und der Lothringer Schuman stammten aus Grenzgebieten, die im Laufe der Geschichte immer wieder blutig hin- und hergeschoben worden waren. Deshalb überzeugte sie die Idee des aus Böhmen stammenden Grafen Richard Coudenhove-Kalergi, der bereits bei der Gründung seiner Paneuropa-Bewegung 1922 dazu aufrief, den Grenzen ihren trennenden Charakter zu nehmen und sie durch eine völkerüberwölbende Demokratie zu „vergeistigen“.


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Gott ist Gott, nicht die Nation ist Gott

Als Katholiken war ihnen außerdem bewusst, dass Gott Gott ist und nicht die Nation. Im Materialismus sahen sie die Ursache allen Übels. Deshalb wurzelten sie in der katholischen Soziallehre und entwickelten daraus das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft mit einem großen S. Kapitalismus und Sozialismus verwarfen sie gleichermaßen. Die von Schuman initiierte Kohle-und-Stahl-Gemeinschaft (EGKS) hatte nicht zuvörderst einen wirtschaftlichen Zweck, sondern sollte Motor eines dauernden Friedens werden, in dem man sieben Jahre nach dem größten Krieg der Menschheitsgeschichte die für militärische Auseinandersetzungen unverzichtbaren Rohstoffe in einen Topf legte, den ehemalige „Erbfeinde“ mittels supranationaler Organe gemeinsam verwalteten. Eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft sollte der nächste Schritt sein, scheiterte aber vor fast genau 70 Jahren in der französischen Nationalversammlung. Dennoch machten sie mit einem gemeinsamen Markt und einer europäischen Atomgemeinschaft weiter, die schließlich mit der EGKS zum Fundament der heutigen EU verschmolzen wurden.

In den siebziger Jahren war der europäische Integrationsprozess festgefahren, weil er die wirtschaftliche Dimension überbetonte, die politische, demokratische und menschliche aber trotz aller Erfolge vernachlässigte. Als Antwort darauf entstand die am 10. Juni 1979 verwirklichte Idee, daß die Völker alle fünf Jahre ein gemeinsames Europäisches Parlament mit Sitz in Straßburg wählen sollten.

Erst machtlos, nun Motor der Einigung

Seitdem hat sich diese ursprünglich eher machtlose Versammlung zum Motor der europäischen Einigung weiterentwickelt. Sie wählt und stürzt die „EU-Kommission“ genannte europäische Exekutive, kontrolliert die Verwaltung durch den Europäischen Rechnungshof und einen eigens zu diesem Zweck geschaffenen Parlamentsausschuss, entscheidet über internationale Handelsverträge und EU-Beitritte und ist mittlerweile für mehr Gesetzgebungsbereiche verantwortlich als Bundestag und Landtag zusammen. Die Abgeordneten leben in den Heimatregionen mitten unter den Bürgern, die sie vertreten, und sind die einzige demokratische Möglichkeit, auf die Gestaltung der europäischen Friedensgemeinschaft einzuwirken.

Lange Zeit zu wenig beachtet, ist Europapolitik unversehens eine Frage von Krieg und Frieden geworden. Angesichts des russischen Angriffskrieges, des chinesischen Dominanzstrebens und der Gefahr, daß ein Donald Trump im Herbst wieder zum US-Präsidenten werden könnte, konzentriert sich das Europaparlament immer mehr auf die Schaffung einer gemeinschaftlichen Außenpolitik und die Gründung einer europäischen Energie- und Verteidigungsunion einschließlich einer Europäischen Armee – ohne andere große Aufgaben wie den Kampf gegen den Klimawandel oder eine faire Entwicklungszusammenarbeit zu vernachlässigen.

Einzigartiges Vielvölkerparlament

Das weltweit einzigartige Konzept eines supranationalen Vielvölkerparlamentes, das die Eigenheiten der vielen Nationalitäten und Regionen respektiert, aber Europa im Wesentlichen zusammenhält, wird allerdings derzeit von zwei Seiten in Frage gestellt: Durch autoritäre und totalitäre, aggressive Regime von außerhalb sowie von links- und rechtsextremistischen Populisten im Inneren. Gerade Christen sind bei der Europawahl am 9. Juni aufgerufen, sich dem entgegenzustellen und den nationalistischen Zersetzungsversuchen, die gegen die europäische Demokratie gerichtet sind, Einhalt zu gebieten. Die EU ist nicht automatisch das christliche Abendland, das es in dieser idealisierten Form ohnehin niemals gab; und der europäische Zusammenschluss kann nicht christlicher sein als seine Teile oder seine Menschen. Sie ist aber auch nicht die riesige Entchristlichungs-Maschinerie, für die sie viele halten.

Wir Christen haben den biblischen Auftrag, Salz der Erde und Sauerteig zu sein. Kulturell sind wir eine Mehrheit, denn fast 80 Prozent der Europäer definieren sich als christlich, was immer sie darunter verstehen. Doch selbst als Minderheit können wir uns schöpferisch in den Gestaltungsprozess unseres Kontinents einbringen, wenn wir nicht wehleidig auf der Seite stehen, sondern um dieses Europa und seine Seele kämpfen.

Bernd Posselt, Europaabgeordneter a.D. und Präsident der Paneuropa-Union Deutschland