Kommentar
„Es ist fünf vor zwölf – und Demokratie ist kein Zuschauersport“
Aus der Bundestagswahl 2025 gehen die politischen Ränder gestärkt hervor. Ruprecht Polenz kommentiert die Ergebnisse und erklärt, wie es in Deutschland angesichts einer beispiellosen außen- und sicherheitspolitischen Bedrohungslage jetzt weitergehen muss.

Das Wahlergebnis vom Sonntag hat gezeigt: Es ist fünf vor zwölf. Die politischen Ränder wurden gestärkt. AfD, Linke und BSW bekamen über ein Drittel der Stimmen.
Die Union hat zwar mit 28,5 Prozent einen Regierungsauftrag erhalten. Aber mit dem Ergebnis kann die Union alles andere als zufrieden sein. Die Ampel-Parteien haben etwa 20 Prozent verloren. Die Union hat nur knapp 5 Prozent dazugewonnen. Vor zehn Wochen, zu Beginn des Wahlkampfes, stand die Union in den Meinungsumfragen bei 34 Prozent. CDU und CSU wären gut beraten, die Gründe für diesen Absturz selbstkritisch zu analysieren.
Es war immer klar, dass eine rein konservative Partei nur auf etwa plus/minus 25 Prozent der Wählerschaft zählen kann. Die CDU muss sich dringend wieder breiter aufstellen und neben ihrem konservativen auch ihrem sozialen und liberalen Flügel wieder Gewicht und öffentliche Sichtbarkeit geben.
Polarisierung zahlt bei den Rändern ein
Wichtig wäre auch die Erkenntnis, dass Polarisierung allein bei den politischen Rändern einzahlt, wie das Ergebnis von AfD und Linken zeigt. Es ist deshalb dringend notwendig, dass die demokratischen Parteien die Hyperkonfrontation beenden und zu einem politischen Stil zurückfinden, der erkennen lässt, dass man Respekt voreinander hat. Kritik und harte Auseinandersetzung in der Sache gehören zur Demokratie und sind ihr Lebenselixier. Polemik gehört dazu wie das Salz zur Suppe. Aber persönliche Herabsetzung der Demokraten untereinander beschädigt die Demokratie.
Die Statements aus Union, SPD und Grünen am Wahlabend ließen erkennen, dass man sich der Verantwortung bewusst ist und die Verletzungen aus dem Wahlkampf hinter sich lassen will. Das ist entscheidend, um das notwendige Vertrauen zwischen den handelnden Personen aufzubauen, ohne das keine Koalition funktionieren kann. Der Blick auf die Herausforderungen kann dabei helfen.
Europa ist gefährdet wie nie
Frieden und Sicherheit in Europa sind gefährdet wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Putins Russland hat die Ukraine überfallen und will sie als Staat und die Ukrainer als Volk auslöschen. Putin macht kein Hehl aus seiner Absicht, Europa bis Lissabon unter russischen Einfluss zu bringen. Wenn er mit der Unterwerfung der Ukraine Erfolg hat, macht er weiter.
Die Regierung von Trump hat nur China im Blick, möchte Russland aus der Nähe von China lösen und will Putin deshalb die Ukraine überlassen mit einer Option für das restliche Europa obendrauf. Damit verrät Trump die Ukraine und ändert die amerikanische Politik gegenüber Europa und Russland um 180 Grad.
Diese Veränderung der Lage erfordert entschlossenes und geschlossenes Handeln Europas, das ohne eine deutsche Führung im Verbund mit Frankreich, Polen und Großbritannien nicht zustande kommen wird. Die russische Aggression gegen die Ukraine muss gestoppt werden. Putin muss seine Truppen aus der Ukraine zurückziehen. Europa kann die Ukraine so unterstützen, dass sie das schafft. Demokratie unter Druck Es sind unruhige Zeiten: Autokraten diktieren das Weltgeschehen, in Deutschland sind Parteien des politischen Randes auf dem Vormarsch. Der Politikwissenschaftler Andreas Püttmann erkärt, welche Kulturkrise unsere Gesellschaft gerade erlebt und welchen Platz der christliche Glaube in dieser Gemengelage hat. Lesen Sie im [inne]halten-Magazin unseren Themenschwerpunkt und weitere Geschichten und Berichte aus dem kirchlichen Leben.
[inne]halten - das Magazin 7/2025
Innehalten Cover 7-2025
Sich verteidigen können, um es nicht zu müssen
Gleichzeitig muss Deutschland seine Verteidigungsfähigkeit steigern. Wir müssen uns verteidigen können, damit wir uns nicht verteidigen müssen, hat Friedrich Merz richtig gesagt. In der Zeit des Kalten Krieges hat Deutschland zwischen drei und vier Prozent des Bruttosozialprodukts für Verteidigung aufgewandt. Wir hatten eine Bundeswehr von 500.000 Soldaten und einer Mobilisierungsreserve von bis zu 1,3 Millionen. Heute sind es 181.600 Soldatinnen und Soldaten und 34.000 Reservisten.
Aber die heutige Lage ist so gefährlich wie seit der Kuba-Krise 1962 nicht mehr. In drei, vier Jahren müssen wir vier Prozent für Verteidigung ausgeben, um glaubhaft abschrecken zu können. Wir müssen auch die Wehrpflicht wieder einführen, denn nur so gewinnen wir die notwendigen Reserven, die für Abschreckung auch nötig sind.
Es reicht allerdings nicht, Panzer zu kaufen, wenn niemand da ist, der sich reinsetzen will. Deshalb brauchen die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr Anerkennung für ihren gefährlichen Dienst. Von ihnen hängen Frieden und unsere Sicherheit ab. Natürlich brauchen wir auch eine andere Wirtschaftspolitik. Denn ohne volkswirtschaftliche Kraft lassen sich die Aufgaben nicht schultern.
Ein längerer Krieg führt zu mehr Flüchtlingen
Für alle, die das Migrationsthema für das allerdringlichste halten: Die Ursache für Millionen syrischer und ukrainischer Flüchtlinge ist die Aggressionspolitik Russlands. Putin hat den Kriegsverbrecher Assad unterstützt und die syrische Zivilbevölkerung bombardieren lassen, und er hat die Ukraine überfallen. Wird er in der Ukraine nicht gestoppt, werden sich weitere Millionen auf den Weg nach Westen machen.
Vor allem die Wahlergebnisse in den ostdeutschen Ländern haben gezeigt, dass es nicht nur auf die Handelnden in Berlin ankommt. In Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Sachsen hat die AfD teils über 35 Prozent der Stimmen erhalten. Dazu kommen noch die Stimmen für das BSW, bis zu über 11 Prozent.
Demokratie ist kein Zuschauersport. Ohne aktive Zivilgesellschaft und Menschen, die sich täglich für sie einsetzen, kann sie nicht bestehen. Jede und jeder kann etwas für sie tun: Zivilcourage zeigen und ausländerfeindlichen Sprüchen widersprechen. Sich mit anderen zusammenschließen und etwas für die Mitmenschen tun (wer glaubt, dass sich niemand um ihn kümmert, ist anfällig für extremistische Parolen). Einer demokratischen Partei beitreten. Trotz ihrer Schwächen. Denn ohne Parteien ist unsere parlamentarische Demokratie nicht denkbar. Dabei reicht es, wenn man die Grundrichtung teilt und ansonsten zu plus/minus 70 Prozent mit ihr übereinstimmt. Eine höhere Quote wird man kaum finden. Und sie wird auch von demokratischen Parteien nicht erwartet.
Schweden hat die Zeichen der Zeit erkannt
Schauen wir auf Schweden. Das Land hat die Zeichen der Zeit erkannt. Es hat seine Neutralität nach über 200 Jahren aufgegeben und sich der NATO angeschlossen. Es hat 2017 die Wehrpflicht wieder eingeführt. Darüber hinaus gibt es eine allgemeine Heimatschutzpflicht.
Auf die neue Bundesregierung unter Führung der CDU/CSU kommen gewaltige Herausforderungen zu. Ohne die Unterstützung aktiver (!) Demokratinnen und Demokraten wird unser Land sie nicht bestehen. Darauf setzen die inneren und äußeren Feinde unserer Demokratie. Wir sollten sie eines Besseren belehren.
Ruprecht Polenz
war von 1994 bis 2013 für die CDU Mitglied des Bundestages und von 2005 bis 2013 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Er ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO).