Interview
Franz Kafka, das beziehungslose Kind
Reiner Stach hat die die in viele Sprachen übersetzte Standardbiografie Franz Kafkas geschrieben. Anlässlich einer im Sankt Michaelsbund erschienen Broschüre über Kafka und Kinder erzählt er im Interview über seine Nähe und Distanz zu dem weltberühmten Autor aus Prag und dessen Aktualität.

Astrid Dehe hat vor Kurzem ein kleines Buch über die Kindheit Franz Kafkas veröffentlicht. Sie haben die dreibändige Standardbiografie über diesen Autor geschrieben. Lässt sich über Kafka denn noch etwas Neues oder Überraschendes herausfinden?
Reiner Stach: Dass sich etwas sensationell Neues ergeben könnte, dafür gibt es eigentlich nur eine ganz, ganz kleine Chance, nämlich die letzten und verschwundenen Notizbücher von Kafka. Die waren im Besitz seiner letzten Freundin Dora Diamant und wurden dann bei einer Hausdurchsuchung von der Gestapo beschlagnahmt. Vielleicht existieren die noch, und wenn sie auftauchen würden, wäre das eine Sensation, die sehr viele Germanisten jahrelang beschäftigen würde. Aber es gibt eben bestimmte Themen, wie zum Beispiel Kafka und Kinder, die eine Autorin wie Astrid Dehe voll ausleuchtet. Ein so spezielles Motiv konnte ich in der von mir verfassten Biografie nicht wirklich ausloten. Und so gibt es noch andere Themen, wo man die Sonde etwas tiefer reinfahren könnte.
Inwiefern ist denn die Kindheit von Franz Kafka selbst ein Schlüssel zu seinem Werk?
Stach: Also, jahrzehntelang hat man auf der Vaterbeziehung von Kafka herumgeritten. Der Grund war natürlich der berühmte „Brief an den Vater“, 80 Seiten im Druck, im Originalmanuskript, glaube ich, waren es sogar 100 Seiten. Und da konzentriert sich Kafka vollkommen auf die Beziehung zum Vater. Dabei geht es Franz Kafka nicht um Schuldfragen, sondern er möchte klären, warum es für ihn so schwer war, eine Verständigung mit seinem Vater zu finden. Aber ich finde, die ganze Kafka-Forschung oder Rezeption hat sich eben sehr stark immer nur auf diesen Brief konzentriert. Viel weniger hat sie Kafkas frühe Phase beachtet. Das Kleinkind Franz Kafka war jahrelang vollkommen allein. Die Eltern waren immer weg, das Kind hat sie eigentlich nur am Abend gesehen, wenn sie nach Hause kamen, für eine Stunde, sofern es da überhaupt noch wach war. Die Eltern waren immer im Geschäft, und tagsüber wurde das Kind von ständig wechselndem Personal versorgt. Und mittlerweile ist recht gut erforscht, dass das verheerend wirkt auf Kinder, wenn sie keine feste Beziehung aufbauen können. Wenn man sich mal Kafkas Werk anschaut, wird das deutlich, in dem feste, zuverlässige Bindungen nicht vorkommen.
Franz Kafka mag aus einer persönlichen Not geschrieben haben, aber warum fesseln seine Romane und Erzählungen die Menschen 100 Jahre nach seinem Tod immer noch weltweit?
Stach: Man muss das fast schon als Hype bezeichnen, den wir im Moment erleben. Der hat sich aber schon seit fast 15 Jahren vorbereitet. Man sieht es zum Beispiel daran, dass sich plötzlich viele Theaterregisseure für Kafka interessiert haben. Dann gab es Ausstellungen über Kafka und die bildende Kunst. Dann kam die Gründung der Kafka-Band von Jaroslav Rudiš, die mittlerweile unfassbaren Erfolg hat. Die haben 2024 noch mehr Termine als ich. Es gibt Filme und Podcasts. Und die modernen Medien beeinflussen und verstärken sich natürlich gegenseitig. Und so hat sich das bis zu diesem Kafka-Gedenkjahr hochgeschaukelt.
Das wäre dann ein sich selbstverstärkendes Medienphänomen. Aber an Kafka muss ja etwas dran sein, damit das überhaupt entsteht.
Stach: Das hat natürlich seine Gründe. Die eine Komponente ist, dass wir das Gefühl haben, unsere Privatsphäre ist im höchsten Maße gefährdet, sei es durch Überwachung, sei es durch Zensur, sei es durch die vielen, vielen Kameras, unter denen wir ständig vorbeilaufen, wenn wir durch die Stadt gehen, sei es durch den Verlust von privaten Daten, wenn wir Apps herunterladen. Wir haben ja gar keine Kontrolle mehr, was mit diesen vielen Daten geschieht. Ich habe mir neulich einen Saugroboter angeschafft und musste feststellen, dass der mit einer App meine Wohnung vermisst, einen Plan erstellt, der direkt an die Herstellerfirma in China geht. Sie glauben gar nicht, wie schnell ich die App deinstalliert habe. Solche Sachen passieren laufend und dieser Verlust der Privatheit ist ein Dauerthema bei Kafka. Im „Prozess“ zum Beispiel geht es um die Zerstörung der Privatsphäre, weniger um Gewalt. Dann kommt eine zweite Komponente hinzu, die sich immer mehr zuspitzt. Wir haben auf der einen Seite eine Informationsflut. Jeder kann sich online aus 1.000 Quellen informieren, in Datenbanken und Archive reingehen, jederzeit. Und trotzdem nimmt das Gefühl von Orientierungslosigkeit zu. Die Leute haben das Gefühl, es sitzt niemand mehr am Steuer oder die, die am Steuer sitzen, kennen die Richtung selber nicht. Die ganze Welt befindet sich in einer Art Blindflug, das ist so ein Grundgefühl. Wenn die Tagesschau über die Situation im Nahen Osten berichtet, gibt es da so wahnsinnig viele Parameter zu bedenken. Da muss man sich auskennen, da muss man die Geschichte dort kennen, sonst versteht man gar nicht, was im Moment überhaupt los ist. Das sind Dutzende von Akteuren, die da mitmischen. Allein dieser lokal begrenzte Konflikt ist schon kaum noch zu durchschauen, geschweige denn die Weltentwicklung insgesamt. Also, Information nimmt zu und gleichzeitig die Desorientiertheit und die Unsicherheit. Das ist eine paradoxe Situation, die typisch ist für unser Jahrhundert. Und dieses Paradox findet man auch in etlichen Werken Kafkas. Darum, unter anderem, sind seine Texte für heutige Leser so zugänglich und wichtig.
Sie haben von 1996 bis 2014 an Ihrer dreibändigen Kafka-Biografie gearbeitet. Sie konnten ihn nie persönlich kennenlernen und trotzdem muss es ja eine Situation gewesen sein, als wäre Franz Kafka Ihr Mitbewohner? Wie nahe ist Ihnen denn der Autor gekommen?
Stach: Als Biograph muss ich da natürlich aufpassen. Erstens darf ich mich nicht identifizieren mit diesem Menschen und zweitens darf ich nie vergessen, er hat vor über hundert Jahren gelebt. Und die Menschen von damals waren in einigen Punkten weit von uns entfernt und wir missverstehen sie schnell. Wieso hat Kafka so lange bei den Eltern gelebt, wieso hatte Kafka Angst vor Sex, solche Dinge? Das kommt Europäern im 21. Jahrhundert merkwürdig, manchmal sogar krank vor. Das war es aber nicht, oft erklärt es sich aus den Zeitumständen. Ich kenne ja Lebenszeugnisse von Kafkas Zeitgenossen. Dort finden sich ähnliche Ängste oder Absonderlichkeiten, nur nicht so gut formuliert wie bei Kafka, nicht so elegant und auch so komisch wie bei ihm. Würde mir Kafka jetzt gegenüberstehen, wären viele Momente der Fremdheit da. Vieles könnte ich nicht verstehen. Aber ich glaube inzwischen zu wissen, wie er „tickte“. Ich kann Muster erkennen in seinem Denken, auch in seinem Verhalten. Dabei zeigt er sehr viele Facetten, und er wird nie eintönig.
Also, er ist Ihnen sehr nahegekommen und trotzdem ein Fremder geblieben.
Stach: Ich glaube, er ist mir so nahegekommen, wie ein Mensch einer anderen Religion, einer anderen Kultur und einer anderen Zeit überhaupt nahekommen kann. Das denke ich schon.
2024 ist das Kafka-Jahr. Was versprechen Sie sich an dessen Ende davon?
Stach: Wie gesagt, hat sich dieses Gedenkjahr ja allmählich und schon lange aufgebaut. Daher erwarte ich, dass die Welle, die wir jetzt erleben, nicht abrupt zu Ende sein wird, sondern viele Menschen auf Dauer erreicht. Auch weil sie das Kafka-Bild zuletzt stark verändert und angereichert hat. Es ist auch nicht mehr so, dass man beim Lesen eines Kafka-Textes gleich mit Interpretationen loslegen und einen Generalschlüssel für die Deutung finden muss. Das war vor 40 oder 50 Jahren so. Die Leute haben heute mehr Lust auf und Spaß bei Kafka. Sie sehen auch die vielen komischen Elemente, bei denen man lachen darf, die Originalität seiner Sprache, seiner poetischen Bilder. Es ist eben ein Genuss, Kafka zu lesen, noch bevor man an Interpretation denkt. Das kommt allmählich an und ich glaube, das wird bleiben.