Gerechtigkeit
31.10.2025

Warum der Hype um Charlie Kirk? 

Zu den schillerndsten Figuren der Make-America-Great-Again-Bewegung in den USA zählte der nationalreligiöse Aktivist Charlie Kirk, der am 10. September 2025 ermordet wurde. Was steckte hinter dem Hype um seine Person? 

Von seinen Fans wie ein Heiliger verehrt: Charlie Kirk. Von seinen Fans wie ein Heiliger verehrt: Charlie Kirk. Foto: © imago/NurPhoto

Wer Charlie Kirk noch nicht kannte, hat spätestens am 10. September 2025 von ihm gehört: An diesem Tag wurde der 31-jährige US-Amerikaner, der als politischer Aktivist, Moderator und Influencer Karriere machte, während einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung ermordet. Die internationale Berichterstattung und die hochemotionalen Reaktionen auf das Attentat zeigten unmissverständlich: Dieser Mann war eine nationalreligiöse Ikone, eine polarisierende Reizfigur – für die einen ein Stein des Anstoßes, für die anderen fast ein Heiliger. Wie kam es zu so einem Hype um seine Person?  

Mit als Erstes erfuhr man über ihn, dass er Mitgründer der konservativen Organisation „Turning Point USA“ und ein wichtiger Unterstützer von Trumps „Make America Great Again“-Bewegung war. Aus jenen Kreisen kam es dann auch zu entsprechenden Santo-subito-Rufen, die den Verstorbenen unter Rückgriff auf militärische und biblische Bilder zu einem „Soldaten des Glaubens“, einem „Krieger für Christus“, einem Propheten und Märtyrer verklärten. Überraschend war, dass sich nicht nur Politiker, sondern sogar hochrangige Vertreter des Christentums in gleicher Weise äußerten: So bekannte der katholische New Yorker Erzbischof Timothy Dolan, dass Kirk, obwohl kein Katholik, für ihn ein „moderner Paulus“, „ein Missionar, ein Evangelist, ein Held“ war. 

Trumpist und Kulturkämpfer 

Demgegenüber lehnten Stimmen aus dem linken Spektrum Kirk in Bausch und Bogen ab und verurteilen ihn als Spalter, Trumpisten, Kulturkämpfer, radikalen Evangelikalen und modernen Kreuzritter von rechts außen. In deren Narrativ erschien er als Erfüllungsgehilfe der menschenfeindlichen Politik der amtierenden US-Regierung und als Agitator, der unermüdlich am Um- und Rückbau des offenen und liberalen Gesellschaftsmodells des Westens arbeitete. 

Tatsächlich verbreitete Kirk in den Jahren seines Wirkens nicht nur Verschwörungstheorien wie die der gestohlenen US-Präsidentschaftswahl 2020, sondern auch andere erwiesene Unwahrheiten. Er fabulierte über die Todesstrafe für Joe Biden, leugnete den menschengemachten Klimawandel, vertrat weitere wissenschaftsfeindliche Ansichten, plädierte für eine vormoderne Rollenverteilung zwischen Mann und Frau, äußerte sich wiederholt auf eine Weise, die als homophob, rassistisch und antisemitisch empfunden wurde, und vieles mehr. Auch bei seinem vielleicht größten Herzensanliegen, dem Kampf gegen Abtreibung, bezog er extreme Positionen: Er sagte, selbst wenn seine zehnjährige Tochter infolge einer Vergewaltigung schwanger werden sollte, müsse sie das Kind austragen; die Abtreibungspraxis in den USA verglich er mit dem Holocaust. 

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Allein gegen viele Kontrahenten 

Doch der wahre Grund, warum Charlie Kirk so viele Menschen begeistern und in seinen Bann ziehen konnte, lag in der Art und Weise, wie er öffentlich auftrat – vor allem bei Debatten. Kirk stellte sich regelmäßig dem Gespräch mit Menschen, die andere Ansichten hatten als er, und diskutierte mit ihnen über Migration, Rassismus, Waffengesetze und weitere Themen mit Zündstoff. Er besuchte dazu Universitäten, setzte sich in ein auf dem Campus aufgebautes Zelt und beantwortete kritische Fragen der versammelten Studentenschaft. Oder er trat in Talkshows und Radiosendungen auf – oftmals allein gegen viele Kontrahenten debattierend. Die Videos von diesen Veranstaltungen sind unter anderem auf Youtube verfügbar und wurden von Millionen gesehen. Darin erscheint er als nahbar, wertschätzend, interessiert am Gegenüber, vor allem aber als intelligenter, mit viel Sachwissen ausgestatteter, brillanter Redner. 

Kirks Auftreten in diesen Debatten hat zweifelsohne etwas Faszinierendes. Wenn man sieht, wie er dasitzt und ruhig spricht, während er umringt ist von einer Menschenmenge, die seine Aussagen mit empörten Zwischenrufen, hämischem Gelächter und ablehnenden Gesten quittiert, empfindet man intuitiv Solidarität mit diesem Einzelkämpfer, der sich so unerschrocken an die Meinungsfront wagt. Freilich ist es von den Machern dieser Videos beabsichtigt, genau dieses Bild zu erzeugen: der aufrechte Charlie Kirk als einsamer Verteidiger der Wahrheit gegen einen verwahrlosten linken Mob. 

Argumentationen, die in sich zusammenfallen 

Wenn man in einem Debattenvideo sieht, wie Kirk trotz massiver Gegenrede unbeirrbar seinen Idealen treu bleibt und es schafft, nur mit der Kraft des Wortes sein anfangs noch forsches Gegenüber in Widersprüche zu verstricken oder zum Nachdenken zu bringen, ist das durchaus beeindruckend. Und wenn sich seine Kontrahenten mangels logischen oder intellektuellen Tiefgangs teilweise selbst demontieren, wobei ihre schlecht reflektierten Argumente wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen, dann ist das ebenso lehrreich wie unterhaltsam. Wer beim Zuschauen darüber hinaus noch empfänglich ist für den kumpelhaften Charme und das fast teddybärähnliche Äußere von Charlie Kirk, schließt ihn schnell ins Herz – so erging es vielen.  

Doch Kirks charismatisches Auftreten als Diskutant, das ein so merkwürdig positives Gegengewicht zu seinen extremen Standpunkten darzustellen scheint, lässt sich bei kritischer Analyse entlarven. Erstens, seine über Jahre hinweg antrainierten und verfeinerten Argumentationslinien ließen den meist ungeübten Diskussionspartnern keine Chance. Ohne jede Bedenkzeit entkräftete er meisterhaft jede von der Gegenseite vorgetragene Kritik und zementierte seine kompromisslosen Positionen. Das war sein gutes Recht, doch damit begegnete er seinen Diskussionspartnern, anders als suggeriert, letztlich doch nicht auf Augenhöhe – er walzte über sie hinweg, machte sie mit seinen Argumentensalven regelrecht mundtot. Nur sehr selten geriet er selbst argumentativ in Bedrängnis, und wenn das geschah, überspielte er es. 

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Sprachliche und rhetorische Tricks 

Zweitens, Kirk arbeitete mit sprachlichen und rhetorischen Tricks, die ihn, sobald man sie kennt, längst nicht mehr so sympathisch erscheinen lassen. So beantwortete er unliebsame Fragen meist nicht ehrlich, sondern konterte reflexhaft mit einer Gegenfrage, die sein Gegenüber in Verlegenheit brachte. Zum Problem des Rassismus in der US-amerikanischen Gesellschaft kritisch befragt, verlangte er beispielsweise vom farbigen Fragesteller, dieser möge zunächst einmal Rassismus definieren, womit er das Gespräch auf eine völlig andere Ebene hob und den Fragesteller in die Defensive drängte. Kirk zerpflückte die daraufhin spontan gelieferte Definition, die natürlich unvorbereitet und daher nicht hieb- und stichfest war, gnadenlos und ließ sein Gegenüber letztlich dumm dastehen. 

Bei anderer Gelegenheit leitete Kirk eine Diskussion über Abtreibung mit der rhetorischen Frage ein: „Findest du, dass Mord illegal sein sollte?“ Worauf das Gegenüber gar nicht anders konnte, als zuzustimmen, bevor Kirk gleich die nächste Frage stellte – ein gnadenloses Diktat der Gesprächsführung, bei dem er auch Fragesteller mit ernsthaften Anliegen jederzeit vor sich hertreiben konnte. 

Auf einer heiligen Mission 

Drittens, Charlie Kirk ging es bei seinen Debatten gar nicht darum, zu versöhnen oder etwas gegen die Spaltung der Gesellschaft zu unternehmen. Nein, er war auf einer heiligen Mission. Er ließ keinen Zweifel an seinen Ansichten zu und hatte nur eine Agenda: seine eine nationalreligiöse Wahrheit zu verkünden. Kirk war nicht die Lichtgestalt der Meinungsfreiheit, zu der er von Unterstützern hochstilisiert wurde. Über politische Gegner und verschiedene gesellschaftliche Gruppen äußerte er sich nicht wertschätzend, sondern mit Verachtung. 

Und viertens: Schaut man sich die vielen im Internet abrufbaren Videos von Charlie Kirks – wie auch anderen – Diskussionsveranstaltungen an, erkennt man schon an den Überschriften ein toxisches Moment. Unübersehbar oft ist dort die Rede davon, dass der eine Diskutant den anderen „demütigt“, „erniedrigt“, „beherrscht“ oder „zerstört“. Ob speziell in den USA oder generell in der modernen Netzkultur: Solche Debatten scheinen oft als „Kämpfe“ aufgefasst zu werden, in denen es nur Sieger und Verlierer geben kann. Dementsprechend ähneln sie oftmals eher einem Schusswechsel als einem klärenden Gespräch, das in Ruhe und beiderseitigem Wohlwollen geführt wird. Es geht um den Sieg, nicht um Begegnung und Ausgleich – the winner takes it all! 

Unbarmherzigkeit und Radikalität 

Noch einmal zurück zum Thema Abtreibung, an dem sich die Weltsicht von Charlie Kirk und sein Vorgehen in Debatten perfekt studieren lässt: Nicht sein Votum für den Lebensschutz als solches war problematisch – dieses kann man gerade als Christ inhaltlich prinzipiell teilen –, sondern die absolute Unbarmherzigkeit und Radikalität, mit der er es verfocht. In Kirks Argumentation gab es nur Weiß oder Schwarz, Austragen des Kindes oder kaltblütigen Mord – aber keine Zwischentöne, kein Mitgefühl, kein Interesse an der jeweiligen Lebenssituation der schwangeren Frau und kein Eingeständnis, dass es in Randbereichen des menschlichen Lebens auch zu Dilemmata kommt, die sich nicht einfach lösen lassen.  

Es ist zwar richtig, dass es für das ungeborene Kind am Ende tatsächlich immer auf eine Ja-nein-Entscheidung hinausläuft – darf es leben oder nicht? –, doch die Erfahrung zeigt: Man löst das Problem der vielen Abtreibungen nicht mit Gefühlskälte und heiligem Eifer. Der so glühende und bibelfeste Christ Charlie Kirk scheint sich hier nicht an der Barmherzigkeit Jesu orientiert zu haben. Man denke an die Geschichte von der Ehebrecherin, die aufgrund ihrer Vergehen gesteinigt werden sollte, aber von Jesus in Schutz genommen wurde. Hätte Jesus eine ebenso rigorose Position vertreten wie Charlie Kirk – die Frau hätte es nicht überlebt.  

Knallharte politische Agenda

Zusammengefasst erscheinen nicht nur Charlie Kirks extreme Standpunkte, sondern auch seine nur vordergründig so sympathische Debattenkunst als problematisch. Er war unbenommen ein charismatischer, hochbegabter Rhetoriker und ein meisterhafter Diskutant. Doch dahinter verbarg sich der Kettenhund einer knallharten politischen Agenda, die keine Kompromisse kennt. Ähnliches gilt für Kirks religiöse Standpunkte, die weniger Ausdruck einer wahrhaft christlichen und menschenfreundlichen Barmherzigkeit, sondern die Visitenkarte eines national eingefärbten evangelikalen Eifers waren.  

Mit diesem Befund zur Person Charlie Kirk könnte man das Thema nun abhaken, doch das Problem ist leider größer dimensioniert: Die Krise der Demokratie – unter anderem infolge der Torpedierung der Gewaltenteilung, zunehmender Salonfähigkeit extremen Gedankenguts, innergesellschaftlicher Polarisierung, Lüge und Hassrede – ist weltweit in vollem Gange; Zustände wie in den USA drohen in abgewandelter Form vielleicht auch in Deutschland. Hier wie dort werden moderat-konservative Christen von Figuren wie Charlie Kirk in eine Krise gestürzt: Denn ihre konstruktive gesellschaftliche Stimme wird vom Fundamentalismus der Ultrareligiösen von rechts übertönt, während sie zugleich in der Mitte und links in den Verdacht gerät, als Wolf im Schafspelz unter einer Decke mit den Extremen zu stecken.  

Unterdessen hat die AfD in Deutschland bereits damit begonnen, Kirks Debattenformat – mit Zeltpavillons im öffentlichen Raum – zu kopieren. Und es bleibt die Frage: Wo ist die politische Kraft und wo ist die Persönlichkeit, die konservative und auch christliche Positionen auf so entschlossene und charismatische Weise vertritt, wie Charlie Kirk es tat – aber ohne dabei einen so radikalen und unbarmherzigen Weg einzuschlagen? In einem hatte der Aktivist freilich recht: Wir müssen wieder mehr miteinander ins Gespräch kommen.

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Joachim Burghardt
Artikel von Joachim Burghardt
Redakteur
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