Die russische Aggression muss abgewehrt werden.
Muss Deutschland auf- oder abrüsten?
Seit mehr als drei Jahren führt Russland Krieg in der Ukraine und greift längst weitere Länder an – mit Spionage, Sabotage und Cyberattacken. Wie soll Deutschland sich aus christlicher Sicht wehren? Wir sprachen darüber mit Jörg Lüer, dem Geschäftsführer der Deutschen Kommission Justitia et Pax, die kirchliche Beiträge zur Entwicklungs-, Friedens- und Menschenrechtspolitik Deutschlands erarbeitet und Konzepte für die internationale Arbeit der katholischen Kirche entwickelt.

Seit Russlands Angriffskrieg in der Ukraine will Deutschland militärisch aufrüsten. Auch die Bischofskonferenz schätzt in ihrem Papier „Friede diesem Haus“ die Sicherheitslage als „fundamental verändert“ ein. Zugleich kritisieren die Bischöfe die Rückkehr zu dem Denken „Willst du Frieden, rüste dich zum Krieg“. Warum?
Lüer: Dem alten römischen Gedanken „Si vis pacem para bellum“ („Wenn du Frieden willst, rüste zum Krieg“) haben wir bei Justitia et Pax immer den Grundsatz „Si vis pacem para pacem“ entgegengehalten: „Wenn du Frieden willst, bereite den Frieden.“ Mit Abschreckung allein werden wir auf Dauer keinen gerechten Frieden herstellen können. Abschreckung kann im besten Fall eine Situation vorübergehend stabilisieren. Als Kirche müssen wir jedoch langfristig denken.
Ist diese Sicht nicht etwas akademisch angesichts des Kriegs?
Natürlich muss aktuell die russische Aggression gegen die Ukraine abgewehrt werden. Allein schon, damit sich das Geschäftsmodell der Gewalt nicht auszahlt und der Krieg sich nicht ausweitet, müssen wir der Ukraine helfen. Dennoch dürfen wir die weitere Perspektive nicht aus den Augen verlieren. Wir Christen nehmen die Realität der Gewalt ernst, aber wir dürfen uns nicht an Gewalt gewöhnen. Gewalt darf nicht das letzte Wort haben. Zudem benennen wir in unserem Papier deutlich die moderne Bedrohungslage, etwa durch eine hybride Kriegsführung.
Was genau meinen Sie?
Neben dem Krieg gegen die Ukraine gibt es jeden Tag auch hybride
Angriffe auf das Baltikum, auf Polen, auf Deutschland und andere
Nato-Staaten. Etwa mit Desinformationskampagnen, mit Spionage und
Sabotage sowie mit Cyberangriffen auf die kritische Infrastruktur. Hier
benennen wir Russland klar als maßgeblichen Akteur.
Also müssen wir doch aufrüsten?
Deutschland wird aufgrund der Bedrohungslage nicht drumherum kommen, einen Verteidigungsstand zu erreichen, der Russland von einer militärischen Auseinandersetzung mit uns abhält. Auch finde ich es richtig, dass die Bundesregierung jüngst eine Brigade der Bundeswehr in Litauen stationiert hat, um Russland von militärischen Aktionen gegen das Baltikum abzuschrecken.
Papst Johannes Paul II. hat eine nukleare Abschreckung als vorübergehend notwendig akzeptiert. Papst Franziskus lehnte sie als „ethisch nicht vertretbar“ ab. Wie kam es zu dem Stimmungswandel?
Vom Grundsatz hatte Papst Franziskus sicher recht, dass er sich mit dem Skandal der Existenz von Nuklearwaffen nicht abfinden wollte. Atomwaffen haben anders als alle anderen Waffengattungen das Potenzial, die gesamte Menschheit auszulöschen. Die Sichtweise aber, dass schon die Stationierung von Nuklearwaffen grundsätzlich verwerflich ist, empfinde ich angesichts der gegenwärtigen Bedrohungslage als schwierig, denn es bezieht die politischen Dynamiken, die wir brauchen, nicht mit ein.
Auch im Grundsatzpapier der Bischofskonferenz steht, es sei „höchste Zeit, aus der Abschreckung mit nuklearen Mitteln auszusteigen“. Zudem wird die Bundesregierung aufgefordert, einen Abrüstungsprozess anzustoßen.
Dass Atomwaffen ein Übel sind, ist schon lange Grundhaltung der
Kirchen. Davon kann niemand überrascht sein. Bereits Johannes Paul II.
hat erklärt, dass Atomwaffen nur eine vorübergehende Legitimität haben.
Wir geben uns nicht zufrieden mit dem jetzigen Zustand. Der ist
erkennbar nicht nachhaltig. Daher sollten wir zu einem Prozess kommen,
der den Rückbau von Atomwaffen ermöglicht. Die Bischöfe fordern daher
dazu auf, über eine Abschreckung jenseits der Nuklearwaffen
nachzudenken.
[inne]halten - das Magazin 12/2025

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Wie soll Abrüstung mit Wladimir Putin gehen?
Mit dem gegenwärtigen russischen Regime wird es wahrscheinlich keinen echten Fortschritt geben. Noch also spielen die Nuklearwaffen eine wichtige Rolle in der Sicherheitsarchitektur der Welt. Dennoch müssen sie langfristig überwunden werden.
Auch durch einseitige Abrüstung?
Am sinnvollsten sind Verhandlungen. Eine einseitige Abrüstung wäre möglicherweise destabilisierend und könnte am Ende sogar zu mehr Gewalt führen. Das Leitmotiv kirchlicher Lehre ist immer die Minimierung von Leid und Gewalt. Abschreckung, also die Androhung von Gewalt, ist immer ein Übel. Aber sie kann ein geringeres Übel sein als ein Krieg.
Experten gehen davon aus, dass Russland in fünf Jahren auch Nato-Länder angreifen könnte. Zugleich ist unter US-Präsident Donald Trump auf den militärischen Schutz durch die USA kein Verlass mehr. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat daher angeboten, seinen nuklearen Schutzschirm auf Europa auszuweiten. Was denken Sie darüber?
Dass ausgerechnet Atomwaffen die richtige Antwort auf die aktuelle Bedrohung sein sollen, erschließt sich mir nicht. Der Ukraine-Krieg und die hybride Bedrohung zeigen recht klar, um was es geht. Wir brauchen eine bessere militärische Aufklärung, eine bessere Abwehr von Cyberangriffen sowie eine gute Luft- und Drohnenabwehr. Zudem wird Polen bald die stärkste Armee in Europa haben. Schon deswegen halte ich es nicht für realistisch, dass die Russen mit ihren Panzern in Berlin einfahren werden. Wir dürfen Abschreckung nicht nur über Nuklearwaffen denken. Auch sollten wir nicht in das Sicherheitsdenken des Kalten Kriegs zurückfallen.
Interview: Andreas Kaiser