Gerechtigkeit
01.04.2024

Hungrig nach Gerechtigkeit

Von den Seligpreisungen Jesu bis zu Alexej Nawalny: Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit ist ein menschliches Urbedürfnis. Nicht immer wird sie Wirklichkeit – aber sie treibt immer wieder Menschen an, sich für Demokratie, Humanität und einen gerechten Staat zu engagieren. Ein Beitrag von der Juristin und Publizistin Beatrice von Weizsäcker.

Alexej Nawalny hat sein Leben im Kampf für die Gerechtigkeit verloren. Alexej Nawalny hat sein Leben im Kampf für die Gerechtigkeit verloren. Foto: © imago/Metodi Popow

Von Bärbel Bohley stammt der Satz: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.“ Bohley war eine prominente Bürgerrechtlerin der DDR. Sie kannte den Preis, den man dafür zahlt, wenn man sich in einem unfreien Land für die Menschenrechte einsetzt. Mehrfach wurde sie von der DDR-Staatssicherheit verhaftet.

Es ist nicht ganz klar, ob Bohley den Satz tatsächlich gesagt hat. Aber gemeint hatte sie ihn. Sie glaube nicht, „dass die Strafjustiz in der Lage sein wird, Gerechtigkeit herzustellen“, sagte sie später, so viel weiß man. Recht komme als Ungerechtigkeit in den neuen Ländern an. „Unser Problem war nicht, den westlichen Rechtsstaat zu übernehmen, unser Problem war, dass wir Gerechtigkeit wollten.“

Gerechtigkeit ist elementar wichtig in einer Demokratie, da hat Bohley Recht. Gerechtigkeit muss die Richtschnur staatlichen Handelns sein und ist die Basis der Gesellschaft. Ohne Gerechtigkeit bricht die Gesellschaft auseinander, bricht das System zusammen. Ohne Gerechtigkeit gibt es keine Humanität. Ein ungerechter Staat ist ein unmenschlicher Staat.


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Sein Leben aufs Spiel setzen

Wer das nicht glaubt, ist naiv. Wer das nicht glaubt, sollte einmal den Blick in andere Länder wagen. Länder, die weder Gerechtigkeit noch Menschenrechte kennen. Länder, in denen die Menschen auf die Straßen gehen und dabei Kopf und Kragen riskieren. Menschen, die alles tun würden, um das zu bekommen, was in Deutschland Standard ist. Sie hungern und dürsten so sehr nach Gerechtigkeit, dass sie sogar ihr Leben aufs Spiel setzen.

Einer von ihnen war der frühere Kremlkritiker Alexej Nawalny. Er setzte sein Leben aufs Spiel – und verlor es. Mit nur 47 Jahren kam er am 16. Februar 2024 in einer russischen Strafkolonie ums Leben. Nawalny war ein gläubiger Mann. Ein Satz war ihm besonders wichtig: „Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden.“

Welche Bedeutung diese Seligpreisung aus dem Matthäusevangelium für ihn hatte, betonte er in seinem Schlusswort vor dem Moskauer Stadtgericht, drei Jahre vor seinem Tod: „Nicht, dass es mir gerade bestens ginge, aber dieses Gebot habe ich immer als Handlungsanweisung verstanden. Es macht mir zwar keinen Spaß, hier zu sein, aber ich bedaure auch keinesfalls meine Rückkehr und das, was ich gerade tue. Denn ich habe alles richtig gemacht. Ich fühle sogar so etwas wie Genugtuung, weil ich in einer schwierigen Zeit getan habe, was in der Anweisung steht. Ich habe das Gebot nicht verraten.“

Ausländerhass nimmt zu

Nun ist kaum jemand so mutig wie Nawalny. Darum darf es niemand den Menschen verdenken, wenn sie vor der Unterdrückung fliehen. Auch nach Deutschland, wo sie Schutz und Gerechtigkeit suchen. Dennoch wenden sich viele gegen sie. Sie wehren sich gegen die Gerechtigkeitssuchenden, statt ihren eigenen Reichtum zu teilen. Den Reichtum an Geld. Den Reichtum an Gerechtigkeit. – Und der Ausländerhass nimmt zu.

Welchen Stellenwert Gerechtigkeit auch in der Bibel hat, lässt sich an Zahlen ablesen. 308-mal kommt das Wort vor. Die „Liebe“ lediglich 235-mal und die „Hoffnung“ sogar nur 120-mal. Trotzdem lässt Paulus die Gerechtigkeit in seinem vielleicht berühmtesten Satz unerwähnt: „Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe.“ (1. Kor 13,13). Das erstaunt mich immer wieder.

Rechte und ihre Grenzen

Ungerechtigkeit war mir schon als Kind zuwider, Gerechtigkeit umso wichtiger. Das war auch einer der Gründe, warum ich Jura studierte. Ich wollte wissen, wie man gegen Ungerechtigkeit vorgehen kann. Mit rechtsstaatlichen Mitteln. Und ich lernte, wie Bärbel Bohley, dass das nicht in jedem Fall gelingt. Das liegt in der Natur der Sache und hat seine Gründe. Denn so unterschiedlich die Menschen sind, so unterschiedlich sind auch ihre Vorstellungen von Gerechtigkeit und einem gerechten Staat.

Zwar achtet unser Rechtssystem darauf, dass jede und jeder zu ihrem und seinem Recht kommt. Möglich aber ist das nur in bestimmten Grenzen. Zu denen gehört das Recht der anderen. Schon Immanuel Kant kannte den Grundsatz, er nannte als Beispiel die Freiheit: „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt.“ Genauso ist das mit anderen Rechten.

Eine göttliche Zusage

Vielleicht hat es auch sein Gutes, dass ich die Gerechtigkeit in der Juristerei nicht überall fand. Lehrte mich die Erfahrung doch, dass es die vollkommene Gerechtigkeit auf Erden nicht gibt, ja gar nicht geben kann. Mit anderen Worten: dass mein Hunger nach Gerechtigkeit ungesättigt bleiben wird, solange ich lebe. Nichts anderes sagt Jesus in seiner Seligpreisung. Er beteuert nicht, „selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt“ (jetzt sofort und hier auf Erden). Er sagt: „… denn sie werden gesättigt werden.“ Das ist ein Versprechen. Ein Zuspruch auf die Zukunft. Es ist eine göttliche Zusage.

Das ist oft schwer auszuhalten, gewiss. Aber es ist ein verheißungsvoller Trost. Denn einmal wird es Gerechtigkeit geben. Einmal werden Hunger und Durst gestillt sein. Die Sättigung, die Jesus verspricht, wird kommen. Gott sei Dank!

Beatrice von Weizsäcker, Juristin und Publizistin

Weizsäcker, Beatrice von Vaterunser
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