Extrajudicial Killings
Ein Ordensmann im Drogenkrieg
Auf den Philippinen sind im Anti-Drogen-Kampf der Regierung Tausende Abhängige und Dealer gefoltert und ermordet worden. Der Ordensmann Jun Santiago fotografiert die Verbrechen, um den Angehörigen der Opfer Mut zu machen. Dass er bedroht wird, hält ihn nicht auf.

Bruder Jun Santiago möchte der Angst keinen Raum geben. Die Frage, warum er selbst noch am Leben ist, scheint ihn zu irritieren. Er weicht ihr aus. Vielleicht hatte er bisher einfach Glück. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, Morde und Folterungen zu dokumentieren, damit sie irgendwann geahndet statt beschwiegen werden. Die Angehörigen sollen ihren Schmerz nicht verstecken müssen.
„Ich sage zu den Witwen und Waisen immer: Es gibt Hoffnung! Aber wir müssen uns ihr auch stellen“, erzählt Bruder Jun. Er will, dass Menschen couragiert auftreten, und fordert sie auf, sich ihre Rechte bewusst zu machen. Sie sollen das Verschwinden und die oft mysteriösen Todesursachen ihrer Angehörigen nicht hinnehmen.
Gerüchte reichen aus
Bruder Jun lebt auf den Philippinen und gehört zur Ordensgemeinschaft der Redemptoristen. Seit etwa zehn Jahren ist er als Bildjournalist aktiv. Wenn er gemeinsam mit anderen Journalistinnen und Journalisten loszieht, sind sie von abends um acht bis etwa vier Uhr morgens in den Straßen Manilas und anderer Städte unterwegs.
In dieser Zeit verfolgen sie Polizisten. Sie dokumentieren mit Fotos und Notizen deren Vorgehen gegen vermeintliche Drogenabhängige und Dealer. Oft sehen sie dann, dass die Polizisten Menschen foltern und hinrichten. Ob jemand wirklich mit Drogen gehandelt oder sie konsumiert hat, ist häufig nicht bewiesen. Gerüchte reichen aus, um von der Polizei oder von deren Söldnern inhaftiert, gefoltert oder erschossen zu werden.
Zehntausende könnten ermordet worden sein
Unter Rodrigo Duterte, von 2016 bis 2022 Präsident der Philippinen, begann dieser sogenannte Drogenkrieg. Duterte gab der Polizei nach seinem Amtsantritt die Erlaubnis, Abhängige und Dealer zu erschießen – ohne Beweise, ohne Gerichtsverfahren, ohne Verteidigung. Menschenrechtsorganisationen und der Internationale Strafgerichtshof gehen davon aus, dass seitdem zwischen 12 000 und 30 000 Menschen ermordet worden sind. Medien berichten, dass neben der Polizei auch Killerkommandos auf die vermeintlich Schuldigen schießen.
Als Ferdinand Marcos 2022 Präsident der Philippinen wurde, gab es die Hoffnung, dass er den Kampf gegen die eigene Bevölkerung stoppt. Doch Medien berichten immer noch von hunderten offiziell bekannten Todesfällen im Zusammenhang mit der Anti-Drogen-Kampagne und einer hohen Dunkelziffer. Die Gewalttaten werden nur möglicherweise seltener von staatlichen Kräften verübt. Bruder Jun sagt über die Killer: „Sie sind nicht mehr so laut. Aber sie sind immer noch da.“
„Es geht um das Leben der Menschen“
Der Ordensmann macht mehr, als Reportern erlaubt ist. Er fotografiert nicht nur die Tatorte, er sucht auch die Angehörigen der Opfer auf. „Wir reden mit den Familien und mit der Nachbarschaft und stellen ihnen Bilder zur Verfügung“, sagt er. Und er bleibt mit den Menschen in Kontakt. Er will nicht nur für Medien berichten. Denn „es geht nicht um Neuigkeiten. Es geht um das Leben der Menschen.“
Bruder Jun erzählt, dass er mehrere Cafés und Läden eröffnet hat, die jetzt von Angehörigen der Opfer betrieben werden. Auch eine Kerzenmanufaktur hat er eingerichtet, damit sie arbeiten und ihren Lebensunterhalt verdienen können. Denn die meisten Hinrichtungen finden in den Armenvierteln statt. Oft haben die Familien nach der Ermordung ihres Vaters, Sohnes oder Ehemannes kein Einkommen mehr.
Die Familien sollen erzählen können
Mit den Cafés will der Ordensmann auch dazu beitragen, dass die Menschen sich gemeinsam an die Toten erinnern und über das austauschen, was passiert ist. Er sagt: „Ich glaube an die Kraft der Erinnerung.“ Die Menschen würden dadurch ermutigt und diskutierten dann eben auch über Menschenrechte.
Aus Sicht von Bruder Jun ist ein Bewusstseinswandel nötig. „Wir brauchen keine Statue für die Toten“, sagt er, „wir brauchen Familien, die erzählen können, was in jener Nacht passiert ist.“ Für später, wenn irgendwann vielleicht Ermittler des Internationalen Strafgerichtshofs ins Land gelassen werden. Bruder Jun sieht seine Fotos auch als Beweismaterial. Er versucht, Gefährdete zu schützen, und gibt Menschen Unterschlupf, die fürchten, dass sie auf einer der Todeslisten der Polizei stehen. Zu Beginn des Terrors 2016 waren es einmal 73 Personen, die in der Kirche seiner Ordensgemeinschaft übernachtet haben, erzählt Bruder Jun.
Drohungen und Hassmails
Viele Menschen haben kein Verständnis für sein Engagement. Seit 2016 hat Bruder Jun viele seiner Fotos in Ausstellungen in der Kirche seiner Ordensgemeinschaft gezeigt. Etliche Leute, so erzählt er, seien daraufhin wütend geworden: „Sie wollen, dass illegale Drogenkonsumenten getötet werden, und bezeichnen uns als Unterstützer des Drogenhandels.“ Im Laufe der Jahre sei das Verständnis für seine Arbeit bei wenigen Menschen gewachsen. Doch Drohungen und Hassmails bekommt er weiterhin.
Beeindrucken lässt er sich davon nicht. Er verfolgt weiterhin mit seinen Kollegen nachts die Polizei. „Die Journalisten sind die einzigen, die sich wirklich gegen den Präsidenten stellen“, sagt Bruder Jun. „Sie sind Zeugen.“ Und er ist einer von ihnen.