Der vergessene jüdische Widerstand
Ein neues Buch beleuchtet den jüdischen Widerstand im Kampf gegen den Holocaust. Es erzählt von Saboteuren, Fluchthelfern, Aufständischen – und auch von Frauen, die sich mit verzweifelten Kräften wehrten und oftmals ihr Leben ließen.

„Hör zu, deutscher Gott“, so machte der jüdische Dichter Władysław Szlengel im Januar 1943 den Aufständischen im Warschauer Ghetto Mut, „wie die Juden beten, / mit Brecheisen oder Stöcken bewehrt. / Wir flehen zu Dir, schicke uns jäh den Tod. / Gib, Herr, dass unsere Hände jetzt treffen, / dass Blut die Uniform befleckt: Gegenangriff! / Dass der Wein des Kampfes uns berauscht!“
Nicht nur die Holocaust-Planer und die Nazi-Schergen in „Uniform“ weigerten sich, den jüdischen Widerstand in den Ghettos und Vernichtungslagern zur Kenntnis zu nehmen. Ebenso die deutsche Öffentlichkeit – sei es aus schlechtem Gewissen oder aus Empörung, dass sich die gejagten und gefolterten „Untermenschen“ gegen ihr gerechtes Schicksal zu wehren wagten. Auch die Forschung listete die Opfer zwar zunehmend penibel auf, blendete aber jahrzehntelang die erstaunlich mutigen Widerstandsaktionen im NS-Staat und den besetzten europäischen Ländern komplett aus.
Beklemmend spannendes Buch
Stephan Lehnstaedt, Professor für Holocaust-Studien an der Touro University Berlin und durch Fernsehinterviews und Zeitungsartikel über den akademischen Bereich hinaus bekannt, schafft jetzt mit einem hervorragend dokumentierten und gleichzeitig beklemmend spannend zu lesenden Buch „Der vergessene Widerstand“ (Verlag C. H. Beck) Abhilfe. Seine Zahlen und historischen Einordnungen sind wichtig, im Gedächtnis bleiben aber vor allem die vielen Erzählungen von Menschen, die sich auch vom sicher bevorstehenden Tod Würde, Solidarität und Kampfgeist nicht nehmen ließen: Saboteure, Fluchthelfer, Aufständische – keineswegs nur Männer.
Zum Beispiel Marianne Cohn aus Mannheim, die im besetzten Frankreich seit 1943 zusammen mit der jüdischen Organisation Juive de Combat immer wieder jüdische Kinder und Jugendliche in die sichere Schweiz schmuggelte. Einer dieser Transporte wurde von den Deutschen entdeckt; Marianne hätte fliehen können, entschloss sich aber, bei ihren 32 Schützlingen zu bleiben, was sie mit dem Leben bezahlte.
Überführt und gefoltert
Zum Beispiel der polnische Jude Oswald Rufeisen, der 1941 nach Mir im heutigen Belarus floh, sich dort als Volksdeutscher ausgab und beim deutschen Polizeiposten als Übersetzer anheuerte. Ein Jahr später sollte das Ghetto von Mir mit etwa 300 Menschen liquidiert werden; Rufeisen warnte sie und ermöglichte ihnen die Flucht, indem er die Besatzer auf eine falsche Spur setzte. Überführt und gefoltert, konnte er dennoch fliehen und bei einer sowjetischen Partisaneneinheit überleben.
Bis zum Kriegsbeginn war die häufigste „Protestaktion“ für bedrängte Juden die Emigration gewesen – doch dazu brauchte man Geld und Freunde im Ausland und überhaupt ein Land, das bereit war, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Und so schlimm würde es doch nicht werden, meinten anfangs viele, die sich als ganz normale Staatsbürger sahen und entsprechend verhielten. Der Nazi-Staat mit seinem Terror würde irgendwann zu zivilisierten Verhältnissen zurückfinden wie jede revolutionäre Bewegung; wozu jetzt Sabotageaktionen riskieren oder eine Widerstandsgruppe gründen?
Mut und Fantasie
Umso verblüffender erscheinen heute Mut und Fantasie derer, die es trotzdem taten. In der kommunistischen Partisanenbewegung auf dem Gebiet von Belarus – einst von Polen verwaltet, dann von sowjetischen Truppen und wenig später von der deutschen Wehrmacht besetzt – gab es gleich drei jüdische Verbände, unter den Mitgliedern Hunderte Frauen und Kinder. Waffen waren rar, und die wenigsten konnten damit umgehen. In den Jahren 1942 und 1943 flohen dort 40 000 Menschen aus den Ghettos in die Wälder, versteckten sich bei Bauern, die sich ihr Entgegenkommen gut bezahlen ließen und die Flüchtlinge dann häufig an die Gestapo verrieten. Für einen aufgegriffenen Häftling gab es 100 Złoty oder auch ein Viertelpfund Zucker. Die nüchterne Statistik hält fest, dass 36.000 Geflohene starben.
Widerstand gab es in zahlreichen Ländern: Im besetzten Algier stellten Juden drei Viertel aller Résistance-Kämpfer. In Frankreich mischten sie 1943 bei zwei Dritteln der bewaffneten Aktionen gegen die Deutschen mit, wenn sie nicht überhaupt dafür alleinverantwortlich waren. Im polnischen Krakau verübten jüdische Partisanen Überfälle auf Eisenbahndepots und deutsche Soldaten, um Waffen zu erbeuten.
[inne]halten - das Magazin 14/2025

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Der Aufstand von Treblinka
Es klingt wie ein Hollywood-Drehbuch, ist aber tatsächlich geschehen: Am 2. August 1943 wagten rund 700 Häftlinge des Vernichtungslagers Treblinka in Polen den Ausbruch aus der Hölle. Es gelang ihnen, das Lager in Brand zu setzen. Viele wurden noch auf dem KZ-Gelände oder auf der Flucht erschossen, aber 100 bis 200 von ihnen – es gibt nur Schätzungen – überlebten bis Kriegsende.
„Treblinka 2“ war – im Gegensatz zu „Treblinka 1“, wo polnische und jüdische Häftlinge Zwangsarbeit leisteten – ein reines Vernichtungslager für Juden. In etwas mehr als einem Jahr haben deutsche SS-Aufseher und ukrainische Hilfsschergen dort an die 850.000 Menschen ermordet. Dreizehn Gaskammern waren den ganzen Tag in Funktion. Weil die riesigen Scheiterhaufen die Leichen nicht ohne Rückstände vernichten konnten, gab es eine spezielle Brigade, die ihre Knochen mit gewaltigen Stampfern zertrümmerte, bis nur noch ein feines Pulver übrig blieb.
Tod als Erlösung
Der Tod muss bisweilen eine Erlösung gewesen sein: Der stellvertretende Lagerleiter Kurt Franz hatte seinen Bernhardinerhund darauf abgerichtet, Häftlingen die Genitalien abzubeißen. Die SS-Männer wüteten mit Peitschen, Gummirohren, Schrotflinten einfach so, weil ihnen eine Visage nicht passte oder zwei Häftlinge ein verdächtiges Gespräch führten. Noch später vor Gericht bezeichneten sie ihre Opfer als „Stücke“ oder „Ladung“, nicht als tote Menschen. Ein ukrainischer Kapo namens Iwan Martschenko machte sich einen Spaß daraus, Häftlinge mit den Ohren an die Wand zu nageln.
Aufstandspläne hatte es in Treblinka schon lange gegeben, schon allein weil die Flucht für einen Einzelnen ziemlich illusorisch war. Und wenn sie tatsächlich einmal gelang, mussten alle Kameraden seines Kommandos sterben – zur Abschreckung. Deshalb der Traum, das ganze Lager in einer einzigen großen Aktion in die Luft zu jagen. „Funktionshäftlinge“, die bestimmte Aufgaben erfüllten und in der Nähe der Lagerleitung und der Waffenkammern tätig waren, versteckten Messer, Äxte, Brecheisen, Pistolen, Sprengstoff. Aus dem Besitz der toten Juden, den sich die SS angeeignet hatte, verschwanden Geld und Juwelen. Der Schlosser Eugeniusz Turowski fertigte, als die Wachen gerade abgelenkt waren, blitzschnell einen Wachsabdruck vom Schlüssel zum Munitionsdepot und daraus später ein perfektes Duplikat.
Hunderte Häftlinge rannten
Als der Aufstand losbrach und Hunderte Häftlinge auf die Stacheldrahtzäune und Tore losrannten, während Baracken und Depots zu brennen begannen, weigerten sich rund 100 apathische, von Krankheit und Hunger geschwächte Gefangene hartnäckig zu fliehen. Von denen, die entkamen, wurden geschätzte 400 in den Wäldern der Umgebung aufgespürt und an Ort und Stelle umgebracht.
Stephan Lehnstaedt ist nicht der erste, der die aufregende Geschichte der Aufständischen von Treblinka erzählt. Das hat der preisgekrönte polnische Journalist und Historiker Michał Wójcik bereits 2015 in einer beklemmenden Reportage getan, die von der polnischen „Newsweek“ als „Buch des Jahres“ ausgezeichnet und 2020 vom Piper-Verlag in einer deutschen Ausgabe herausgebracht wurde. Lehnstaedt ergänzt die Erinnerung an Treblinka jedoch mit der Schilderung eines ähnlichen Ausbruchs aus dem Vernichtungslager Sobibor, im heutigen Dreiländereck Polen-Belarus-Ukraine gelegen, wenige Monate später.
200 flohen aus Sobibor
Am 14. Oktober 1943 kam es in Sobibor zu einem Aufstand mit anschließender Massenflucht. Sowjetische Kriegsgefangene jüdischer Herkunft hatten die Revolte geplant. Die Aufständischen töteten elf SS-Angehörige und zehn ukrainische Wachmänner. Viele Häftlinge starben im Kugelhagel der Wachleute oder im Minenfeld außerhalb der Stacheldrahtumzäunung. Am Ende gelang 200 Gefangenen die Flucht, 54 Männer und acht Frauen konnten bis Kriegsende untertauchen oder sich Partisanengruppen anschließen.
Christian Feldmann