Rituale
11.03.2024

Szenische Lesung

Menschen am Kreuzweg

Was haben die Personen gedacht, die bei der Kreuzigung Jesu mitgewirkt oder zugeschaut haben? Davon erzählt die Bibel nichts. Susanne Deininger lässt in einer szenischen Lesung einige von ihnen zu Wort kommen. Und provoziert bei den Hörenden die Frage: Wer wäre ich gewesen?

An die sechs Protagonisten der Lesung schließt sich der Beitrag von Joachim Burghardt an, der davon berichtet, wie er sich in der Rolle des Soldaten gefühlt hat.

Szenische Lesung "Menschen am Kreuzweg" von Theologin Susanne Deininger

Kajaphas: Wie kann man jemanden wegschaffen, der Menschen heilt, aufrichtet und mit Hoffnung erfüllt? Aber weg muss er! Sonst sterben viele. Da bin ich mir sicher. Auch wenn es mir vielleicht persönlich leidtut: Dieser Jeschua aus Nazareth muss weg! Um des Volkes und des Friedens willen. Nur so können wir unsere Identität und unseren Glauben wahren! Und beim Verhör gestern hat er mir dann endlich die Waffe in die Hand gegeben: „Bist du der Messias?“, habe ich gefragt und er hat es bestätigt. „Ihr werdet den Menschensohn zur Rechten des Vaters sitzen sehen!“ – Das ist Gotteslästerung. Damit hatte ich ihn.

Simon Petrus: Ich bin der Fels! So hat er mich genannt: Petrus, der Fels … Felsenfest war ich von ihm überzeugt, und vor allem von mir selbst … Der treueste der Jünger! Von Anfang an bin ich dabei, seit Galiläa. Damals waren wir schon überzeugt: In Jeschua, da ist Gott stark! Von ihm ging eine Kraft aus, in ihm war ein Licht … Da musste man einfach mit! Aber jetzt komme ich nicht mehr mit. Seit Wochen spricht er von Jerusalem und vom Tod. Dennoch: Auf mich kann er sich felsenfest verlassen …, dachte ich … Und dann krähte dieser vermaledeite Hahn … Bis an mein Lebensende werde ich ihn krähen hören! Vorausgesagt hat er es. Dreimal hätte ich mich mutig für ihn hinstellen können, dreimal kam aus meinem Mund nur ein: „Ich kenne diesen Mann nicht!“ – Ein schöner Fels …


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Maria, die Mutter Jesu: „Geh nicht hin! Bleib doch im Haus!“, hat Johannes gesagt, der liebe Junge. Er macht sich Sorgen wie die anderen auch, dass ich zusammenbrechen könnte, dass ich es nicht aushalten kann. Aber wie könnte ich nicht hingehen? Sie hängen meinen Sohn! Wie könnte ich da wegsehen? Es war ja noch nie leicht mit ihm. Diese tiefe Berufung, die ihm gegeben ist, diese Nähe zu Gott, seinem Vater, dieser Weg des Messias ... Immer schon habe ich mir Sorgen gemacht. Und jetzt ist alles so viel schlimmer gekommen, als ich es befürchtet habe. Und jetzt stehe ich hier und sehe, wie er sich hinausschleppt, wie er das Holz schleppt, an das er gebunden werden wird, um daran zu sterben … Nichts kann ich mehr tun für ihn jetzt. Aber vielleicht sieht er mich ja, spürt mich … Mein Jeschua!

Ein römischer Soldat: Das ist wohl alles höhere Politik. Den Göttern sei Dank, dass ich sowas nicht entscheiden muss. Als sie ihn geschlagen und verhöhnt haben im Hof, da hab ich mich rausgehalten. Man muss nicht immer überall mitmachen. Derselbe Hass war in ihren Stimmen wie bei der bezahlten Meute vor den Palasttüren. Hass bringt niemanden weiter … Und jetzt hängt er da. Wehrlos ist er den Weg gegangen. Ein wahrhaft Friedfertiger. Gottes Sohn sei er, sagten seine Freunde. Mag sein, dass er es wirklich war. Wenn ja: Solche Göttersöhne bräuchte die Welt noch mehr!

Judas: „Verräter“ nennen sie mich! Ich wollte das nicht! Ich wollte niemanden verraten, schon gar nicht ihn! Es sollte kein Verrat sein … Ich wollte einfach, dass es endlich losgeht. Dass er endlich sein Reich aufrichtet! Seit wir hier sind, steigt die Anspannung. Die Menschen haben gewartet auf ihn! Sie haben ihm zugejubelt. Er hätte jederzeit wirklich ihr König werden können. Warum wollte er das nicht? Warum zeigt er ihnen nicht seine Macht? Er ist es doch, der Messias, der neue David! Warum nur hat er sich nicht gewehrt? Warum hat er nicht Gott angerufen? Er hätte ihm doch geholfen … Ich dachte, wenn der Druck nur etwas höher wird, vielleicht schreitet er dann endlich zur Tat. Tut etwas, zeigt sich … Ich wollte das nicht! Nicht so! Oh Gott, ich wollte das nicht! Mein Leben ist verwirkt.

Maria aus Magdala: Wir waren uns so nah. Nie hat mich jemand verstanden wie er. Bevor ich ihm begegnet bin, war ich eine Getriebene, eine Gejagte. Meine inneren Dämonen hatten mich völlig im Griff. Die Begegnung mit ihm hat mich geheilt. Mich ganz gemacht, Leib und Seele und Geist. Endlich wusste ich, wohin ich gehöre. Das kann nicht vorbei sein! Ich habe die Kraft Gottes am eigenen Leib gespürt, die von ihm ausgeht! Das kann nicht vorbei sein. Das hier kann nicht wahr sein, darf nicht wahr sein! Warum ist Gott so fern, plötzlich wieder so fern? Da geht er und sieht mich nicht, uns alle nicht. Es ist, als ob ich nicht da wäre, wieder unsichtbar, wieder verloren.

Wer bin ich? Erfahrungsbericht eines Teilnehmers

Als ich in der szenischen Lesung „Menschen am Kreuzweg“ an den Ambo trete, habe ich eine eigenartige Rolle auszufüllen: Ich bin römischer Soldat. Als vorletzter Sprecher stehe ich vor dem Publikum, alle Blicke sind auf mich gerichtet. Nach mir kommt nur noch Josef von Arimathäa, dem als großzügiger Spender des Grabs Jesu eine versöhnliche Rolle zufällt. Aber wer bin ich eigentlich?

Einfacher Soldat oder Hauptmann?

Ein Blick in die Bibel zeigt mir: Vielleicht bin ich als römischer Soldat einer von denen, die Jesus verhöhnen, ihm die Dornenkrone aufsetzen, ihn anspucken, ihm die Kleider vom Leib reißen. Vielleicht bin ich aber auch der Hauptmann, der nach Jesu Tod, an diesem weltgeschichtlichen Wendepunkt, wie ein einsamer Feldherr nach geschlagener Schlacht dasteht und erkennt: „Wirklich, dieser Mann war ein Gerechter!“ Wie oft, wie viele Jahre meines Lebens, habe ich mir immer dann, wenn bei der Bibellektüre oder in einem Film die gewalttätigen römischen Schergen am Kreuzweg auftauchten, gedacht: Was für jämmerliche Gestalten! Was für schändliche Randfiguren! Was für arme Teufel – wenn die wüssten, wen sie da quälen! Wenn dagegen der Hauptmann vorkam, empfand ich immer so etwas wie Respekt für seine anerkennende Einsicht über Jesus, und ich bedauerte, dass sie so spät kam – zu spät?

Stunde Null nach der Kreuzigung

Bin ich einer der vielen Mitläufer, einer der Peiniger am Wegrand? Oder bin ich wie die schicksalhafte Gestalt des Hauptmanns, in deren Mitschuld sich doch ein Fenster in die Zukunft öffnet? Rund drei Jahrhunderte nach der Kreuzigung – welche Ironie der Geschichte! – wird sich wieder so ein römischer Hauptmann, ein Kaiser sogar, das Bekenntnis zu Jesus zu eigen machen und den Glauben an den Auferstandenen zur römischen Staatsreligion und damit zur Weltreligion erheben. Aber dem verstörten Hauptmann auf Golgotha, der nicht weiß, wie ihm geschieht, schlägt erst einmal die Stunde Null. „Als sie ihn geschlagen und verhöhnt haben im Hof, da hab ich mich rausgehalten“, spreche ich aus dem Manuskript ins Mikrofon, und meine Worte hallen im weiten Kirchenschiff nach. „Hass bringt niemanden weiter …“ Also bin ich wohl einer von den Gemäßigten. Ein einfacher Soldat, zwar zu feige für den offenen Widerspruch, aber immerhin nicht an vorderster Front an den Schandtaten beteiligt. Oder doch der Hauptmann, im Grunde anständig und nicht unrecht, aber natürlich an Befehle gebunden und am Ende doch ein Mann der Waffengewalt. Was hätte ich tun sollen?

Eine Mischung aus Tatkraft und Zerknirschtheit

„Und jetzt hängt er da.“ – „Ein wahrhaft Friedfertiger.“ – „Gottes Sohn sei er, sagten seine Freunde. Mag sein, dass er es wirklich war.“ Ich stehe da, ein laut grübelnder, mit sich ringender römischer Hauptmann, und ich versuche, meiner Stimme eine authentische Mischung aus Stärke, Tatkraft, aber auch Selbstzweifel, Zerknirschtheit und Sanftmut zu geben. Als ich wieder abtrete, um Josef von Arimathäa das Mikrofon zu überlassen, bin ich wieder ganz mein Gegenwarts-Ich: Habe ich gut vorgelesen? Ich finde, diese szenische Lesung ist eine gelungene Veranstaltung. Wie klang meine Stimme? Wird mich hinterher jemand auf meinen Auftritt ansprechen? Ehrlich gesagt weiß ich bis heute nicht genau, was das für ein römischer Soldat war, den ich da gespielt habe. Und wie viel davon gespielt oder doch ganz authentisch ich selbst war.

Joachim Burghardt
Artikel von Joachim Burghardt
Redakteur
Immer auf der Suche nach spannenden, kontroversen und kuriosen Themen rund um Glauben und Wissen.