Kolumne
Mit Gottes Augen sehen. Oder: Bei mir bist du schön!
Wie sich uns die Dinge oder Menschen zeigen, hängt auch von unserer Perspektive ab. Andreas Knapp ermutigt zu einem Blick, der die Schönheit und das Göttliche in allem entdeckt.
Es passierte bei der Besteigung eines Kirchturms. Meine Bekannte wollte einer kleinen Gruppe die Glocken zeigen. Der Weg führte über eine Leiter durch das Gebälk. Dort hingen einige Fledermäuse und jemand aus der Gruppe kommentierte: „Bah, sind die hässlich!“ Meine Bekannte hörte dies und wandte sich um: „Du hast sie noch nicht lange genug angeschaut!“
Als mir meine Bekannte von ihrer spontanen Reaktion erzählte, war ich verblüfft. Es stimmt: Wir lassen uns oft von ersten, oberflächlichen Eindrücken leiten. Oder wir haben schon unsere Vorurteile im Kopf. Ein zweiter Hinblick aber kann uns tiefer blicken lassen. Manchmal ist mir das im Museum schon so ergangen: Zunächst stehe ich ratlos vor einem Gemälde. Und will bereits weitergehen. Doch dann bleibe ich doch stehen, lasse die Farben und Formen länger auf mich wirken. Und dann passiert es: Auf einmal spricht das Gemälde zu mir. Gefühle werden wach, vielleicht Erinnerungen. Und was mir auf den ersten Blick nichtssagend erschien, das zeigt sich mir bei längerem Hinschauen in einem anderen Licht.
Und plötzlich sieht alles ganz anders aus
Es gibt Zeichnungen und Gemälde, die mit einem „Kipp-Effekt“ spielen. Man sieht eine junge Frau – aber man kann auch eine alte Dame erkennen: je nachdem, wie man auf das Bild schaut. Faszinierend finde ich auch einen Würfel, den man plötzlich „von der anderen Seite“ sehen kann. Manchmal brauche ich etwas Zeit, bis der erste Eindruck „umkippt“ und ich den Würfel in einer anderen Perspektive sehe. So ergeht es mir auch im Blick auf andere Menschen: Ich habe schon ein festes Bild von ihnen. Aber dann erfahre ich etwas, was ich ihnen nie zugetraut hätte. Und mein bisheriges Bild kippt um, im positiven wie auch im negativen Sinn.
Als Mensch auf der Suche nach Gott hilft mir manchmal ein solcher Perspektivenwechsel: Ein Blick in die Tiefe kann auf das Göttliche aufmerksam machen, das hinter oder in allen Dingen wohnt und auf uns wartet.
Ich sehe nichts Neues, und doch sehe ich alles in einem neuen Licht.
Denn wer an Gott glaubt, schaut anders auf die Welt und auf sich selbst: Als Glaubender bitte ich darum, die Welt mit den „Augen Gottes“ sehen zu können.
Von Gott aus gesehen ist die Welt gut
Und wie sieht Gott die Welt? Die Bibel berichtet, dass Gott seine Schöpfung mit einem gütigen Blick anschaut. „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut.“ (Gen 1,31) Die Schöpfung wird dadurch vollendet, dass Gott in allem das Gute sieht. Im Hebräischen bedeutet das Wort „gut“ zugleich auch „schön“. Die Welt mit den Augen Gottes sehen meint daher: Die Schönheit der Schöpfung wahrnehmen und sich an ihr freuen.
Ich versuche, diese neue Sichtweise im kontemplativen, das heißt betrachtenden Gebet einzuüben. Dieser Gebetsform geht es um den Blick in die Tiefe. Der kontemplative Mensch will die Welt mit neuen Augen sehen, und zwar mit den Augen der Liebe. Bei einem verächtlichen Hinblick sehen wir manchmal nur das Häss-liche: Hass und Ablehnung, Vorurteile und Aversionen trüben den Blick. Ein liebevolles Hinschauen kann dagegen das Liebenswerte entdecken, das in allem wohnt. Nach dem Zeugnis der Bibel hat Gott nichts Hässliches, nichts Hassenswertes gemacht: „Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht geschaffen.“ (Weish 11,24)
Mit Gottes Augen sehen lernen
Gott hat im Grunde alles schön gestaltet. Und wenn wir versuchen, mit den Augen Gottes zu sehen, so können wir das Schöne und Liebenswürdige in allem erahnen. Seit vielen Jahren begleitet mich ein Wort von Dostojewski: „Das Schöne wird die Welt erlösen.“ Vielleicht ist damit dieser Blickwechsel gemeint: Dass wir im Unansehnlichen, im Gewöhnlichen und sogar im Abstoßenden den Hauch jener Schönheit entdecken, die Gott in die Schöpfung hineingelegt hat. Mit einem solchen Auge für das Schöne hat Jesus vor allem auch jene Menschen angeschaut, die für viele Zeitgenossen keines Blickes würdig waren. Er konnte auch in den entstellten Gesichtern der Aussätzigen das Schöne entdecken und bei den Verachteten das Liebenswerte. Dadurch schenkte er ihnen neues Ansehen und „erlöste“ sie aus Isolation und Missachtung.
Christsein bedeutet für mich, dass ich mich um eine solche neue Sichtweise bemühe: Wenn ich ein Naturschauspiel, einen Menschen, ein Kunstwerk – oder eine Fledermaus – bewundere, dann zeigt sich plötzlich das Wunder: Im Wahrnehmen des Wunder-Schönen kann ich die Welt anders sehen. Und kann vielleicht ihren guten Ursprung erahnen. Und in allen Dingen den Glanz des Göttlichen.