Einzigartige Sammlung: Frau bewahrt 650.000 Sterbebilder und ihre Geschichten
Besonders auf dem Land ist es immer noch üblich, nach einer Beerdigung kleine gedruckte Zettel auszugeben. Sie zeigen den Verstorbenen und sollen an ihn erinnern. Irmgard Jörg sammelt sie seit über 20 Jahren.
Sie wohnt Tür an Tür mit Kaiserin Sissi, mit allen Päpsten seit Pius IX. und neuerdings auch mit Franz Beckenbauer. Das sind aber nur drei von über 650.000 Mitbewohnern, „die alle bei mir im Haus untergekommen sind und keine Miete zahlen, aber leicht unterzubringen und anspruchslos sind“, lacht Irmgard Jörg. Seit gut 20 Jahren sammelt sie Sterbebilder, mittlerweile hat sie mehr davon als Stuttgart Einwohner zählt.
Für sie sind das nicht nur bedruckte Zettel: „Hinter jedem Sterbebild steckt doch ein ganzes Leben, und das geht mir jedes Mal nahe“. In Alben und Kartons hat sie diese letzten Abschiedsgrüße nach Alphabet und Regionen geordnet. Die „kleinen Leute“ sind ihr dabei mindestens so lieb wie Prominente. Hinzu kommen ein paar Sonderkategorien wie „Adel“, „Geistliche“ oder „Mordopfer“. „Früher war das oft auf dem Sterbebild gestanden: umgekommen durch Mörderhand“, erklärt die 67-jährige, „heute wird das verschwiegen, als ob sich das Opfer und die Angehörigen schämen müssten“. Da gefällt ihr die einstige Offenheit besser: „Die Hinterbliebenen haben ihren Schmerz ausgedrückt und so ihre Trauer verarbeiten können“.
Mit Sterbebildern das Andenken an Verstorbene lebendig halten
Überhaupt liebt Irmgard Jörg ältere Sterbebilder, die sie in ihrem Haus bei Eichstätt hütet. Seit dem 19. Jahrhundert sind sie besonders in katholischen Landstrichen verbreitet und Teil des Totengedächtnisses, bis heute. Allerdings bemerkt die Sammlerin, dass die Nachrichten über die Verstorbenen immer dürftiger werden. Manchmal stehen nur Name, Geburts- und Sterbedatum darauf, „als ob dieser Mensch dazwischen keinen Beruf, kein Leben gehabt hätte“. Das sei früher ganz anders gewesen. Irmgard Jörg zieht als Beispiel das 1948 gedruckte Sterbebild einer Frau Huber aus einer Plastikhülle. Auf dem steht unter anderem zu lesen, dass die verstorbene Kriegerwitwe Mariendarstellerin bei den Radegunder Passionsspiele sowie Tauf- und Firmpatin von über 70 Patenkindern war: „Da merke ich, da hat jemand gelebt.“
Dann kann Irmgard Jörg nicht anders, als gleich ein weiteres Bild herauszuziehen, eine Besonderheit aus dem Jahr 1919. Damals schnitten die Angehörigen kleine Porträtaufnahmen aus einem Bogen und klebten sie selbst auf die nur mit einem Text versehenen Sterbebilder. Das war bei geringen Auflagen billiger, als das Foto mitdrucken zu lassen. So ein Sterbebild hat auch die „Streicherbäuerin von Groß-Eichenhausen“ bekommen, die sieben Kinder hinterlassen hat. Irmgard Jörg ist es besonders kostbar, gerade weil es recht abgenutzt ist: „Das bedeutet, dass es jemand ganz oft in die Hand genommen, an diese Frau gedacht und wahrscheinlich für sie gebetet hat.“
Bei Sterbebildern wie diesen, kommen der Sammlerin schon einmal vor Rührung die Tränen. Bei manchen DIN A-5- großen Blättern, die zum Begräbnis besonders im Rheinland verteilt wurden, ärgert sie sich dagegen: denn die abgeschiedenen Ehefrauen wurden zuerst und oft ausschließlich mit dem Namen ihres Mannes genannt: „Also Witwe oder Gattin z.B. von Peter Müller, manchmal steht nicht einmal der Vorname und schon gar nicht der Geburtsname der Verstorbenen drauf!“ Das macht Irmgard Jörg „als alte Frauenrechtlerin sauer“. Nur als „Anhängsel eines Mannes“ zu existieren, „das geht ja gar nicht“. Schließlich habe jeder Mensch eine eigene Persönlichkeit, „und was gerade Frauen früher geleistet haben, das kann man doch nicht einfach unterschlagen“. Darum geht es Irmgard Jörg auch in ihrer Sammlung: „Die Toten haben oft so viel mitgemacht und sich für andere aufgeopfert, sie verdienen es, dass man sie in Ehren hält und ihnen ein Andenken bewahrt“.
Sterbebilder als kulturelles Erbe: Irmgard Jörgs Beitrag zur Ahnenforschung und Heimatgeschichte
Drei bis vier Stunden pro Tag verzeichnet sie jedes neu eingegangene Sterbebild mit Namen und Ort in einem Computerprogramm. Sogar wenn sie auf Reha ist, sind ein paar hundert Totenzettel und der Rechner dabei. Den Menschen, die ihr Sterbebilder vorbeibringen, verspricht sie, nichts davon wegzuwerfen. Sie hat auch dafür gesorgt, dass das so bleibt. Das Archiv der Erzdiözese München und Freising wird die Sammlung übernehmen und Irmgard Jörg hat sich „schriftlich zusichern lassen, dass da nichts aussortiert wird“. Archivar Roland Götz hält das riesige Konvolut schon allein „wegen seines Umfangs für erhaltenswert und weil es einen Zeitraum von fast 200 Jahren umfasst“. Entscheidend sei aber Irmgard Jörgs minutiöse digitale Dokumentation. „Das ermöglicht es, diesen Bestand wissenschaftlich unter verschiedensten Fragestellungen auszuwerten.“
Für Soziologen, Medizinhistoriker, aber auch für die Frömmigkeits- oder Heimatgeschichte enthalte die Sammlung viel Material. Ebenso für die Ahnen- und Familienforschung. Die betreibt Irmgard Jörg auch selbst und dadurch ist sie überhaupt auf die Sterbebilder aufmerksam geworden. Die ersten paar Dutzend hat sie sich von Verwandten erbeten, später auf Flohmärkten gesucht, mittlerweile bekommt sie ganze Bündel geschenkt. „Mein Mann sagt immer, wenn uns jemand besuchen will, bringt’s der Irmgard keine Blumen mit, sondern ein paar Sterbebilder.“ Mittlerweile ist sie unter Ahnenforschern sogar eine kleine Berühmtheit.
Fast täglich erreichen sie Anfragen, die insbesondere nach Bildern von Vorfahren fragen, von denen sonst keine Fotografien überliefert sind. Irmgard Jörg hat extra einen Scanner angeschafft, um diese Wünsche digital zu bedienen. Dafür Geld zu verlangen, lehnt sie ab. Die einzige Gegenleistung, die sie annimmt, sind eben Sterbebilder, die sonst im Altpapier landen würden. Oft genug die einzige und letzte Erinnerung an einen Verstorbenen. Bei Irmgard Jörg findet sie einen Platz.