Die Berge der Bibel erklimmen
Professor Martin Ebners Wanderbegleiter lädt ein, Weg- und Glaubenserfahrungen zu verbinden.
Sobald er einen freien Tag hat, schnürt Martin Ebner seine Wanderschuhe und erwandert einen Gipfel in der Rhön oder im Steigerwald. Für den Priester und emeritierten Theologie-Professor ist das Bergwandern aber weit mehr als sportliche Betätigung an der frischen Luft. „Bergwandern und Glaube hängen eng zusammen“, sagt der in Schweinfurt lebende Seelsorger.
Menschliche Grunderfahrungen
Und das gilt nicht nur für das Hier und Heute, sondern war schon zu Lebzeiten Jesu so. „Im Matthäus-Evangelium finden wichtige Ereignisse stets auf Bergen statt“, berichtet Ebner, der bis 2019 Professor für Exegese des Neuen Testaments in Münster und Bonn war. Sieben Mal steigt Jesus bei Matthäus auf einen Berg und wird dort mit menschlichen Grunderfahrungen konfrontiert: Da geht es um Entscheidungsnöte und die Verlockung der Macht auf dem Berg der Versuchung (Mt 4,8–11), um etwas andere Wege zum Glück auf dem Berg der Seligpreisungen (Mt 5,1–12), um das Bedürfnis nach Ruhe auf dem Rückzugsberg (Mt 14,22–23), um steile Anstiege und das Mitschleppen Schwächerer auf dem Elendsberg (Mt 15,29–31) oder verwandeltes Leben auf dem Berg der Verklärung (Mt17,1–9). Zwei Bergszenen spielen dabei in der Kar- und Osterzeit, nämlich die Ölbergstunde (Mt 26,36–46), in der die Jünger eine Schule des Gebetes durchlaufen, sowie der Anstieg auf den Berg der Sendung (Mt 28,16–20), von dem der Auferstandene seine Jünger in die Welt schickt. All diese Bergepisoden hat Ebner jetzt zu einem spirituellen Wanderbegleiter zusammengestellt. Er verknüpft dabei die biblischen Bergerfahrungen Jesu ganz konkret mit dem realen Bergerlebnis.
Schule des Lebens und des Glaubens
Auslöser war eine Bibel-Wanderwoche im Sommer 2021, die der Theologe mit Wanderführerin Waltraud Juranek bei Innsbruck geleitet hat. Das tägliche Bergwandern rund um das Wipptal habe sich dabei rasch als Schule des Lebens und Glaubens erwiesen: „Wer nach oben steigt, wird automatisch still, horcht in sich hinein“, konstatiert Ebner lakonisch, „und je höher man steigt, desto klarer wird der Überblick über die nicht sichtbaren Dinge“. Eine andere wichtige Erkenntnis war für die 15 Teilnehmenden, dass „Anstrengung sich lohnt“ – und zwar nicht nur beim Bergwandern, sondern auch in Glaube und Leben. Und schließlich: „Wer sich nicht bewegt, kommt nicht nach oben.“ Eine Binsenweisheit, die sich für Ebner „gut auf unsere Kirche anwenden lässt“. „Wer oben in der Hütte sitzen bleibt, kommt nicht mehr runter zu den Menschen“, konkretisiert er, „wer dagegen unten sitzen bleibt, macht keine spirituellen Erfahrungen.“ Das intensivste und überraschendste Erlebnis der Bibel-BergWoche in Österreich sei jedoch gewesen, „wie einander völlig fremde Menschen aus ganz unterschiedlichen Regionen und Milieus in kürzester Zeit zusammengewachsen sind und Nähe, Empathie und Verständnis füreinander entwickelt haben“. Ebner führt das auf die Texte der Bibel selbst zurück, die allesamt von einem „anderen Miteinander“ sprechen. „Mit dieser christlichen Grundhaltung im Kopf und den Wanderschuhen an den Füßen haben wir gemeinsam Grenzen überbrückt.“ Hinzu komme, so Ebner weiter, dass es in den neutestamentlichen Texten stets um „existenzielle Grunderfahrungen geht, die jeder von uns kennt“.
Die Weisung Jesu im Gepäck
Nach einer kurzen Einführung in die Bergwelt der Bibel liefert das kompakte Bändchen praktisch anwendbares Begleitmaterial für sieben in sich geschlossene Wanderungen. Jede Tagesepisode beginnt mit einem Morgen-Psalm, dann folgen der biblische „Berg-Text“ aus dem Matthäus-Evangelium, ein Abmarsch-Impuls, ein kurzes Gebet und Raum für eigene Gedanken am Gipfel, ein kurzer Tagesausklang und schließlich eine exegetische Vertiefung. Ein Anliegen ist es Ebner dabei, die verborgene Tiefendimension und Symbolkraft der Aufstiege Jesu zu eröffnen. Denn „die entdeckt man erst, wenn man das Alte Testament mit den darin aufscheinenden Bergen wie etwa dem Sinai danebenlegt“, so Ebner. Das Alte Testament werde so gewissermaßen zum Echoraum, in dem die neutestamentlichen Texte zum Klingen kommen. Für das judenchristliche Publikum des Matthäus, das das Alte Testament stets vor Augen und im Herzen gehabt habe, sei dies kein Problem gewesen, dem heutigen Leser bleiben diese Dimensionen dagegen weitgehend verborgen. Landschaften und Berge, auf denen sich die bei Matthäus beschriebenen Grunderfahrungen nachempfinden lassen, finden sich in nahezu jeder Region: Für den Versuchungsberg empfiehlt Wanderfan Ebner einen Berg mit verlockendem Rundblick, für die Seligpreisungen einen Weg durch bunte Wiesen und helle Täler, eher abgelegene Pfade durch eine stille Gegend bieten sich für den Rückzugsberg an, ein steiler Anstieg für den Elendsberg, ein Gipfel mit strahlenden Felsen und weitem Blick für den Verklärungsberg und den Sendungsberg, ein dunkler Waldweg für den Ölberg. Wer sich aufmacht, sollte „einen guten Freund oder eine gute Freundin mitnehmen, mit dem man schweigend wandern, von den Gipfeln in die Ferne schauen und die Brotzeit teilen kann“, rät Ebner. So gerüstet und mit der Weisung Jesu im Gepäck könne man auch auf Wallberg und Taubenstein, Rotwand und Hochries, Rauschberg und Geigelstein „Bestärkung in den jesuanischen Grundhaltungen erfahren“ und neue Impulse für innere Zufriedenheit und ein gelingendes Leben mitnehmen.
Anja Legge, freie Journalistin