Hoffnung
Wie werde ich ein österlicher Mensch?
Wenn Eltern ihre Kinder trösten wollen, sagen sie oft: „Alles wird gut." Das klingt naiv, doch dahinter verbirgt sich die Hoffnung auf das ewige Leben, meint Pfarrer Bodo Windolf.
Wenn ich bei Trauergesprächen die Angehörigen frage, ob sie an ein Wiedersehen mit dem Verstorbenen glauben, ist ein überzeugtes Ja selten. Häufige Antworten sind: Ich weiß es nicht. Es ist noch niemand zurückgekommen. Wenn ich aber frage, ob sie es hoffen und sich freuen würden, wenn es so wäre, lautet die Antwort so gut wie immer Ja. Immerhin! Dennoch ist meine Erfahrung, dass die christliche Auferstehungshoffnung in unserer Gesellschaft weitestgehend verloren gegangen ist.
Als Theokrit im 3. Jahrhundert vor Christus schrieb: „Ein Mensch hofft, solange er lebt, erst die Toten hoffen nicht mehr“, war dies keine Ablehnung der Auferstehungshoffnung, denn er kannte sie ja gar nicht. Anders heute, brutalstmöglich ausgedrückt etwa in Bert Brechts Gedicht „Vom ertrunkenen Mädchen“: „Als ihr bleicher Leib im Wasser verfaulet war / Geschah es (sehr langsam), dass Gott sie allmählich vergaß / Erst ihr Gesicht, dann die Hände und ganz zuletzt erst ihr Haar. / Dann ward sie Aas in Flüssen mit vielem Aas.“ Und im Gedicht „Gegen Verführung“ heißt es (auszugsweise): „Lasst euch nicht verführen! / Es gibt keine Wiederkehr. / … / Das Leben wenig ist. / Schlürft es in vollen Zügen! / … / Lasst euch nicht vertrösten! / … / Ihr sterbt mit allen Tieren / Und es kommt nichts nachher.“ Diese Konsequenz aus dem Mit-dem-Tod-ist-alles-Aus hat schon Paulus formuliert: „Wenn wir allein für dieses Leben unsere Hoffnung auf Christus gesetzt haben, sind wir erbärmlicher daran als alle anderen Menschen. Wenn Tote nicht auferweckt werden, dann lasst uns essen und trinken; denn morgen sterben wir.“ (1 Kor 15,19.32)
Realismus hat westliche Kultur erfasst
Es ist ein Lebensgefühl, das weite Kreise der westlichen Kultur erfasst hat: Sei realistisch! Unser Schicksal ist der Tod! Gott hat uns vergessen – weil es Ihn gar nicht gibt! Wir sind lang genug verführt worden mit Vertröstungen auf ein angebliches Jenseits. Daher: Carpe diem!, wie weiland Horaz dichtete. Pflücke den Tag! Koste das Leben aus bis zur Neige. Du hast kein anderes! Lebe heute, denn morgen bist du tot!
Ist man wirklich ein hoffnungsloser Realitätsverweigerer, wenn man einer solchen Banalisierung unseres Daseins die Gefolgschaft verweigert? Zwei Hinweise aus unserer menschlichen Erfahrung: Ein Kind hat sich wehgetan und weint. Es wird von seiner Mutter auf den Schoß genommen. Sie streichelt ihm über den Kopf oder die wehe Stelle, wiegt es hin und her und flüstert ihm ins Ohr, immer wieder neu: Es wird alles, alles wieder gut! Natürlich denken Eltern, wenn sie mit diesen Worten trösten, nicht an das Ungeheure, das sie da behaupten. Anstatt zu sagen: Dieses Wehweh wird wieder gut; behaupten sie: Alles wird wieder gut. Man möchte fragen: Lügen Eltern ihre Kinder (unbewusst) an? Oder ahnen sie, übrigens kulturübergreifend, eine Wahrheit, die zutiefst in uns verankert ist? Eine Intuition im Innersten unserer Seele, die besagt: Er, der alles „sehr gut“ (vgl. Gen 1,31) gemacht hat, wird auch die durch das Böse, das Leid und den Tod verwundete Schöpfung heilen und wiederherstellen in ihrer ursprünglichen Unversehrtheit, Güte und Schönheit, ja weit darüber hinaus.
Alles wird wieder gut – Lüge oder Wahrheit?
Eine zweite Überlegung finden wir überraschenderweise bei dem Philosophen Max Horkheimer. Zum Entsetzen unzähliger Weggefährten schrieb er, den man fest im atheistisch-religionskritischen Lager verortete, 1970 in einem Beitrag für den „Spiegel“: „Theologie ist – ich drücke mich bewusst vorsichtig aus – die Hoffnung, dass es bei diesem Unrecht, durch das die Welt gekennzeichnet ist, nicht bleibe; dass das Unrecht nicht das letzte Wort sein möge … Ausdruck einer Sehnsucht, einer Sehnsucht danach, dass der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge.“
Diese dreifache Sehnsucht, am Ende möge alles gut ausgehen, der Bösewicht zur Verantwortung gezogen und dem Opfer Recht verschafft werden, erleben wir ja schon beim Mitfiebern mit den „Guten“ in einem Buch oder Film. Und so behaupte ich: Die Erfüllung dieser Sehnsucht, die Gläubige und Ungläubige gleichermaßen in sich tragen, nennen wir theologisch Auferstehung. Der Auferstandene ist nicht nur Erlöser, sondern Einlöser dessen, was Eltern ihren Kindern in schmerzvollen Stunden zuflüstern: dass alles gut wird. Er ist der Einlöser dessen, dass nicht die, die (ihn) gefoltert und gemordet haben, am Ende Recht behalten, sondern das Gute und der Gute. Und da er mit einem Wort der Vergebung gestorben ist, ist er der, in dem auch für die Täter alles gut ausgehen kann, wenn, ja wenn sie, wie der rechte Schächer am Kreuz, ihre Schuld bekennen und sich des Erlösers vergebender Liebe anvertrauen, die größer ist als jede nur denkbare Schuld.
All das bedeutet: Was wir an Ostern feiern und was der österliche Mensch glaubt und hofft, ist die passgenaue Antwort auf die tief im Menschen verankerte Sehnsucht nach Leben, Liebe, Freude, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Vergebung, Versöhnung, Frieden et cetera, auf dass alles gut werde. Ostern zeigt, dass diese Sehnsucht nicht ins Leere geht, sondern Antwort findet. Die Sehnsucht ist das Fragezeichen, das wir uns als Menschen selbst sind; ein Fragezeichen, in dem wir die Stimme der Wahrheit, die Stimme Gottes selbst vernehmen, Antwort erhoffend und Antwort findend im Ostergeschehen – unüberbietbar schön ausgedrückt im letzten Buch der Bibel: „Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen. Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu“ (Offb 21,3–5). Nie ist die österliche Hoffnung des österlichen Menschen schöner beschrieben worden. (Pfarrer Bodo Windolf, Pfarrer der Pfarrei Christus Erlöser im Münchner Stadtteil Neuperlach)