Glaubenswelten
10.05.2025

Vergiss mich nicht!

Wir sehnen uns danach, dass andere an uns denken. Welches „Andenken“ brauchen wir wirklich, fragt Andreas Knapp.
    

Schlimm, wenn man übersehen oder übergangen wird! Ich erinnere mich daran, dass mein Bruder bei Besuchen von unserer Oma ein besonderes Geschenk erhielt – und ich leer ausging. Das hat mich damals sehr getroffen und verletzt. War ich ihr nicht so wichtig wie mein Bruder? Dieser wurde bevorzugt, weil er den gleichen Vornamen trug wie der jüngste Sohn meiner Großmutter, der aus dem Krieg nicht mehr zurückgekommen war. Ich wusste das – und doch fühlte ich mich zurückgesetzt und vergessen. 

Ähnliche Situationen kennen viele Menschen: Wenn in der Schule aus Versehen der Name auf der Liste der besten Sportler nicht erwähnt wurde. Wenn sogar eine gute Freundin den Geburtstag völlig verschwitzt hat. Wenn bei Wahlen zum Klassensprecher oder zur Betriebsrätin keine einzige Stimme auf einen fällt... 

Es schmerzt, wenn man übersehen oder ganz vergessen wird. Und viele setzen nicht wenig Energie dafür ein, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erhalten und sich einen „Namen zu machen“. Die Großen in Politik oder Kunst haben es geschafft: Denkmäler schmücken die Plätze einer Stadt, und die Namen von Goethe oder Bach finden sich tausendfach auf Straßenschildern oder über Schuleingängen. Ein kleiner Trost bleibt den meisten: Wenigstens auf dem Grabstein soll mein Name „verewigt“ sein, zumindest für 20 oder 30 Jahre.
    

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Nicht dem Vergessen anheim fallen 

Tut etwas zu eurem Gedächtnis! Die Bemühungen, sich ein bleibendes Andenken zu verschaffen, nimmt bisweilen groteske Züge an. Was tun sich Menschen nicht alles an, um ins Guinness-Buch der Weltrekorde aufgenommen werden. Bereits in der Antike wollte ein Mann eine so skandalöse Tat vollbringen, dass man sich in alle Ewigkeit an seinen Namen erinnert: N.N. (ich nenne seinen Namen boshafterweise nicht) zündete den Artemis-Tempel von Ephesos an, der zu den sieben Weltwundern zählte – in der Hoffnung, dass durch sein Verbrechen sein Namen für immer im Gedächtnis der Menschheit eingebrannt bleibe. 

Wir wollen nicht vergessen sein. Und es gehört zu den wichtigsten Bitten, die wir an geliebte Menschen richten: „Denk an mich!“ - „Wenn ich morgen eine Klausur schreibe, zu einem Vorstellungsgespräch gehe, mich einer Operation unterziehen muss … : Bitte denk an mich!“ 

Doch wir Menschen sind vergesslich. Und vor allem sterblich. Daher ist unser Andenken so zerbrechlich und vergänglich. Auf Totenanzeigen und Grabsteinen finden wir das Versprechen von Angehörigen, ihre Verstorbenen nicht zu vergessen: „Du lebst weiter in unserer Erinnerung.“ Doch was passiert, wenn der Letzte, der sich meiner noch erinnert hat, auch verstorben ist? Bin ich dann auf immer vergessen?
  

[inne]halten - das Magazin 10/2025

Schlüsselübergabe

In die Trauer mischt sich Aufbruchstimmung, die Welt blickt auf die Papstwahl.

Nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe hat das Konklave in Rom begonnen. Welche Aufgaben muss der Nachfolger von Papst Franziskus angehen? Wie kann er die Kirche überzeugend führen? Vatikan-Experte Ludwig Ring-Eifel gibt Antworten.

Lesen Sie im [inne]halten-Magazin unseren Themenschwerpunkt und weitere Geschichten und Berichte aus dem kirchlichen Leben.

Gott vergisst uns nicht 

Eine Hoffnung bleibt: Dass Gott ein gutes Gedächtnis hat! Und dass er niemanden vergisst. Natürlich gibt es Zweifel. Beim Propheten Jesaja heißt es: „Zion sagt: Der Herr hat mich verlassen. Gott hat mich vergessen. Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde, ich vergesse dich nicht.“ (Jesaja 49,14f.) Gott vergisst sein Volk nicht, weil ihm seine erste Liebe gilt: „Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb.“ (Hosea 11,1)  

Wir können darauf bauen, dass Gott auch dann noch an uns denkt, wenn wir dem Gedächtnis dieser Welt entfallen sind. Weil Gott in Treue an uns denkt, brauchen wir uns auch nicht krampfhaft einen Namen zu machen. Denn unsere Namen sind in seine Hand eingeschrieben und bleiben dort wie ein Tattoo unauslöschlich eingraviert. Gott hat uns immer vor Augen. Selbst im Tod gehen wir ihm nicht aus den Augen und nicht aus dem Sinn. In Gottes Gedächtnis, das zugleich sein Herz ist, bleiben wir für immer lebendig.
 

Andreas Knapp
Artikel von Andreas Knapp
Priester und Dichter
Gehört zur Ordensgemeinschaft der "Kleinen Brüder vom Evangelium". Tätig als Putzkraft, Joghurt-Verkäufer, Saisonarbeiter, Gefängnisseelsorger und in der Flüchtlingshilfe. Andreas Knapp ist einer der bekanntesten christlichen Lyriker im deutschsprachigen Raum.