Kolumne
Faszination durchs Auge: Wie Kunst und Licht unser Inneres bewegen
Gemälde anzuschauen, das kann gleichzeitig beruhigen und aufwühlen. Denn Sehen ist ein Wunder, etwas Göttliches, es hat eine spirituelle Ausrichtung. Zumindest erlebt das unser Kolumnist Alois Bierl so.
Gemälde anzuschauen, ist eine meiner Leidenschaften. Die Ruhe des Blicks auf ein einziges Bild, das sich nicht so einfach wegwischen lässt oder sich in der Bewegung auflöst, meinem Innenleben tut das gut. Trotzdem knallt es immer wieder richtig in meinem Kopf, wenn ich das Werk eines alten oder neuen Meisters betrachte. Dann bin ich einerseits immer noch still und gleichzeitig ganz aufgewühlt. Denn ich werde die Gedanken nicht los, wie aufregend es ist, dass ich das Bild überhaupt sehen kann! Was kommt da alles zusammen - Milliarden von Jahren hat es gedauert, bis so etwas möglich geworden ist. Da braucht es zuerst einmal Licht, eine elektromagnetische Strahlung.
Lichtwellen in lang und kurz
Das muss auf Gegenstände treffen, die dieses Licht zum Teil zurückwerfen und einen anderen Teil davon zurückhalten. So machen das auch die Farbpigmente auf der Leinwand. Wenn auf italienischen Renaissancegemälden der Horizont sich ins Unendliche zu dehnen scheint, dann liegt das an den hellen Blau- und Grautönen, die der Künstler dünn aufgetragen hat. Die Lichtwellen, die von ihnen ausgehen, sind kurz und die Augenlinse bricht sie stärker als andere Farben. Dadurch entsteht im Kopf aber der Eindruck räumlicher Tiefe. Ganz anders ist es, wenn Rupprecht Geiger, einer meiner Lieblingsmaler, mit kräftigen Rottönen arbeitet. Mir kommt es immer vor, als würden sie durchs Auge in den ganzen Leib hineinfluten und ihn ausfüllen. Kein physikalisches Wunder, oder eben doch eines: Rot ist langwellig, aber alles andere als langweilig, und erscheint den Sehorganen besonders nah. Ohne ein Auge wären die ganzen Wellen allerdings vergeblich. Das braucht es, um die Farben aufzunehmen, ihnen zu antworten.
Verzweifelter Charles Darwin
Über das Auge soll Charles Darwin ganz verzweifelt gewesen sein. Er konnte es sich einfach nicht erklären, wie dieses Organ entstanden war. Neulich habe ich gelesen, dass die ersten Zellen Lichtempfindlichkeit entwickelten. Ob das jetzt mehr erklärt? Jedenfalls ist daraus auch mein Auge entstanden, das jetzt gebannt auf ein Bild blickt. Schneller als mir mein Verstand das „Warum“ erklärt, hat es schon entschieden, dass es sich dieses Gemälde anschauen will, dass da etwas geschieht zwischen meiner Innenwelt und der Außenwelt. Augen sind wunderbar. Darum sind mir auch die Bilder, die Gott als großes Auge in einem Dreieck darstellen überhaupt nicht unheimlich. Ich finde mich da nicht überwacht oder heimlich beobachtet, sondern begleitet, wahr- und aufgenommen. „Ich will dir raten, über dir wacht mein Auge“, heißt es im 32. Psalm. Da nimmt jemand, der nicht nur sein Auge, sondern auch sein Licht auf mich richtet, meine Wellenlängen auf, was ich zurückstrahle und das was ich für mich behalte.
So viel Aufwand, damit sich die Welt anschauen lässt
Es macht sich jemand ein Bild von mir, für das er, sie oder es mir die Farben an die Hand gegeben hat. Jemand, der so viel Aufwand getrieben hat, damit sich die Welt anschauen lässt und uns dadurch etwas von sich selbst mitteilt und mitgibt. Daran denke ich jedes Mal, wenn mich ein Gemälde anzieht und an ein kleines Gedicht von Goethe: „Wär nicht das Auge sonnenhaft,/Die Sonne könnt es nie erblicken;/Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft,/Wie könnt uns Göttliches entzücken?“ Was diese Göttliche ist, bleibt letztlich nicht zu fassen. Das hat es übrigens mit dem Licht gemeinsam: Auch da ist es für die Physiker nicht eindeutig, ob es immer aus Wellen besteht oder aus winzigen Teilchen. Fest steht nur: es ist da.