Achtsamkeit
07.12.2024

Kolumne

Nichts los hier, und das ist gut so

Ein Ort mitten in Berlin, der spektakulär ist, weil dort nichts passiert. Alois Bierl verrät Ihnen die Adresse. 

Neulich habe ich ihn kennengelernt: den unglaublichsten Ort in Berlin. Das Gebäude liegt in einem Hinterhof zwischen dem Brandenburger Tor und dem Potsdamer Platz. Wenn vor Mitternacht die meisten Supermärkte schließen, wenn die Partygänger gegen 9.00 Uhr morgens aus den Techno-Clubs wie dem „Berghain“, oder dem „Salon zur Wilden Renate“ taumeln, weil auch dort einmal Schluss sein muss, wenn die Museen und die Behörden noch oder längst zugesperrt sind, wenn im Bundestag nach einer langen anstrengenden Debatte das Licht abgedreht wird – egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit, dieser Ort ist dann noch offen. Immer: 24 Stunden an sieben Tagen die Woche und es ist nicht der Hauptbahnhof, sondern die 1910 erbaute Sankt-Clemens-Kirche in der Stresemannstraße 66. 


Anzeige

Die Stille liegt im Hinterhof

Ganz einfach ist sie nicht zu finden, denn sie liegt eben in einem Hinterhof. Glückliche und Unglückliche, Arme und Reiche, viele Migranten aus aller Welt schauen dort ebenso vorbei wie Bio-Deutsche und tun etwas Unerhörtes: sie sitzen einfach still da, gehen in sich und beten! Und das in der „Hauptstadt der Ungläubigen“, wie eine Zeitung Berlin einmal genannt hat. 

Als ich spät in der Nacht mit dem Zug ankomme, schaue ich aus Neugier vorbei. Da knien zwischen ein und zwei Uhr morgens tatsächlich Menschen: Manche kommen von einer Schicht, andere suchen in einer schlaflosen Nacht einen Ort der Ruhe. Ein junges Pärchen schaut kurz vorbei, vielleicht waren die beiden gerade auf einer Party und sind frisch verliebt. Ganz verlassen ist die Kirche nie, denn Freiwillige lassen sich rund um die Uhr zu Gebetsstunden einteilen.  

Bedrückte Herzen, aufgeweckte Patres

Wen etwas sehr schwer bedrückt, was er oder sie nicht im Berghain, in einer Kneipe, nicht einmal bei Freunden oder in der Familie loswerden kann, findet eine Notklingel. Die Seelsorge an der Kirche leisten Patres, die sich sogar aus dem Schlaf läuten lassen, wenn jemandem das Herz zu schwer wird. Ich habe aber niemand gesehen, der davon Gebrauch gemacht hätte. Eine Stunde lang bin ich geblieben. In diesem Raum, in dem nichts los ist, der spektakulär ist, weil hier endlich einmal nichts passiert, und das ist gut so.

Was für eine Einladung in einer Stadt, die ständig unter Strom steht und vibriert. Ein Ort ohne Spaßpflicht und Kaufrausch, ohne große Kunstwerke, die der pflichtbewusste Bildungsbürger abzuarbeiten hat. Ein Ort, für den sich niemand aufbrezeln, an dem sich niemand wichtig machen muss und der deshalb so gut tut! Berlin, ick liebe Dir, weil Du so aufgekratzt und bunt, so inspirierend und grell bist – und Dir einen Platz gönnst, an dem ich das alles jederzeit hinter mir lassen kann. Eine Kirche, in der ich mitten in der Nacht über meinen kleinen und großen Kummer nachdenken darf oder ihn, wenn er unerträglich wäre, sogar jemand anvertrauen könnte.

Sorgen hineintragen oder draußen lassen

Genauso darf ich die Sorgen aber auch vor der Tür lassen, die Zukunftsangst, wenn mir die gerade gelesenen politischen Nachrichten noch im Kopf herumspuken, genauso wie den Ärger über die wieder einmal unpünktliche Bahn und den deshalb verpassten Anschlusszug, in dem ich eingenickt bin und deshalb noch nicht schlafen gehen kann. Immerhin hat mich die Verspätung nach Sankt Clemens gebracht. Wo ich mich in eine Bank setze, allmählich müde werde, mich geborgen fühle und gelassen sein kann. Ich werde wiederkommen, beim nächsten Berlinbesuch, und diesen Moment genießen.

Alois Bierl
Artikel von Alois Bierl
Chefreporter und Kolumnenautor
Beschäftigt sich mit wichtigen Trendthemen wie Spiritualität.