Kolumne
Heiliger Schrecken
Frau Immergrün zieht sich zurück. Ins Private. „Das kann man ja nicht aushalten“, sagt sie und meint: was in der Welt geschieht.
All die Männer, die so tun, als seien sie der Heiland persönlich. Seit neuestem gibt es auch Frauen unter ihnen. Anfangs hat Frau Immergrün noch demonstriert, gegen die AfD und ihre Hetze, für Klimaschutz und Weltfrieden. Sie hat Kerzen angezündet und mit Engelszungen geredet. Sie hat auf die Vernunft gesetzt: die USA würden doch nicht wirklich ein zweites Mal Trump als Präsident wollen? Sie wollen. Zusammen mit den reichsten Männern feiert er sich. Und zu allem Überfluss klebt seit gestern am Briefkasten ihrer Nachbarin ein Sticker mit der Aufschrift „Biodeutsch statt Bio-Fleisch“.
Frau Immergrün ist so müde
Sie will sich die Decke über den Kopf ziehen und erst wieder aufwachen, wenn die Welt wieder in Ordnung ist. Wenn man ohnehin nichts ändern kann, kann man es auch sein lassen. Selbstfürsorge sei in diesen Zeiten wichtiger denn je, hat Frau Immergrün gelesen und plötzlich eine so unglaubliche Sehnsucht nach Flausch gespürt. „Ich kapituliere. Ab sofort halte ich mich raus. Statt Nachrichten schaue ich nur noch Panda-Videos.“
„Aber nein“, sagt Gott, „tu das bitte nicht!“, (und es ist wirklich selten, dass Gott sich einmischt). „Du!“, ruft Frau Immergrün, „du hast mir gerade noch gefehlt. Du könntest ja was unternehmen. Könntest durchgreifen und die Welt wieder ins Gleichgewicht bringen. Da schwadroniert ein selbstverliebter Präsident, von Gott selbst auserwählt zu sein und du – schweigst.“ Frau Immergrün ist überrascht, wie viel Wut sich in ihr angestaut hat. Gott versteht das. Aber Gott ist kein Schlägertyp:
„Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“
Dann ist es still. Nicht mal die Fliege am Fenster wagt es, ihre Flügel zu spreizen. Man könnte meinen, die Welt bliebe stehen. Aber so einfach geht das natürlich nicht. Frau Immergrün schüttelt ein Kissen auf und überlegt, ob die Wand eine neue Farbe vertragen würde. Irgendwas in Pastell. Gott geht nicht weg. Gott bleibt. Und sagt: „Ich brauche dich. Bitte. Lass mich nicht allein mit diesen Möchtegern-Göttern, mit ihrem Egoismus und Größenwahn.“
Frau Immergrün hört plötzlich den Schrecken in Gottes Stimme. Und da besinnt sie sich: Nein, denkt sie. Nein, das kann ich dir wirklich nicht antun.