Interview
Der Philosoph Dieter Thomä über Veränderungen im Vaterbild
Der 64-jährige Dieter Thomä ist emeritierter Professor der Universität St. Gallen und Autor des Werks „Väter. Eine moderne Heldengeschichte“. Als Philosoph hat er sich mit dem von seiner Zunft oft vernachlässigten Thema Familie befasst. Eines seiner ersten Bücher trug den Titel: „Eltern. Kleine Philosophie einer riskanten Lebensform“.

BIERL: Sie sind selbst Vater einer Tochter und eines Sohnes, haben vier Enkelkinder. Sie haben die Vaterrolle von innen kennengelernt und von außen betrachtet. Wie hat sie sich historisch verändert?
THOMÄ: Ich denke, man könnte den Vater früherer Zeiten als eine Art Zaun-König betrachten. Denken Sie jetzt aber bitte nicht an den schönen Vogel, sondern nehmen Sie es wörtlich: Er ist der am Zaun stehende Mächtige gewesen, der aber nicht dazugehörte. Durch die wirtschaftliche Rolle, die er oft außer Haus ausübte, war er stark beansprucht und abwesend. Wenn er dann mal auftauchte, hatte er eine enorme Machtstellung. Der meistens Abwesende ist häufig mächtiger als der ständig Anwesende, weil er nicht zum Anfassen ist und fast etwas Übermenschliches bekommt. Oft weiß seine Umgebung nicht, wie sie ihn einschätzen soll. Diese Mischung aus Abwesenheit und Macht, die war sicher bestimmend für die Vaterrolle, zumindest in den Mittelschichten, in der bürgerlichen Gesellschaft. In den Arbeiterfamilien war es anders, weil da auch die Mütter Geld verdienen mussten und es um die Macht der Väter vielleicht gar nicht so gut bestellt war.
BIERL: Waren die Väter schon immer nur Zaun-Könige?
THOMÄ: Es war zumindest bis ins 18. Jahrhundert anders, weil die Wirtschaft und der Haushalt stärker zusammenfielen. Also beim Handwerk früherer Tage war die Werkstatt im Schuppen hinter dem Haus und in der Landwirtschaft das Feld vor der Tür. Der Vater war also nicht so abwesend und die gesamte Familie eine zusammenhängende ökonomische Einheit, einschließlich massiver Kinderarbeit. Und es war auch nicht immer so, dass Kinder-, zumindest Knabenerziehung immer nur Frauenarbeit war. Denken
Sie an das antike Griechenland, da zählte die Erziehung zu den vornehmsten Aufgaben des freien Mannes.
BIERL: Warum sind Väter von heute keine Zaun-Könige mehr, sondern wollen oder müssen eine andere Rolle suchen und einnehmen?
THOMÄ: Da müssen wir über die Familie hinaus auf die gesamte Gesellschaft blicken. Wenn wir über „Väter“ sprechen, sprechen wir nicht nur über Familienväter. Da geht es um Landesväter und sogar um Gottvater. Es ist wie bei einer russischen Puppe: Aus einer großen Puppe kommen kleine heraus, und immer haben die kleineren die größeren zum Vorbild. Gottvater gibt die Macht dem Landesvater. Der sorgt wiederum dafür, dass seine Landessöhne ihre Familien regieren können. Die Figuren in dieser Puppe und ihre Macht werden seit 250 Jahren immer stärker in Frage gestellt. Der französische Landesvater, der König, wurde sogar geköpft. Mit den bürgerlichen Revolutionen des 18. Jahrhunderts kommen die Forderungen nach Emanzipation, Selbstbestimmung und persönlicher Freiheit.
Die Gesellschaft reibt sich am Landesvater, der einem politisch vorschreiben will, was man zu tun hat. Und auch die Religion ist eng verwoben mit der Frage nach Autorität. Sie soll nicht zwangsverordnet sein, sondern der Glaube gewinnt ja seine Großartigkeit dadurch, dass er freiwillig ist. Damit ändert sich die Vorstellung vom Gottvater. All das wirkt in die Familien hinein, selbst wenn dort die väterliche Macht lange standgehalten hat. Es wird nicht mehr einfach hingenommen, wenn der Vater Schuster ist und seinen Sohn zwingen will, es ebenfalls zu werden.
Oder es wächst die Bereitschaft, sich zu wehren, wenn der Vater brutal ist. Diese Macht- und Autoritätsfragen führen nicht unbedingt zu einer Abschaffung der Vaterrolle, jedoch zu einer Veränderung. Die Väter sind ja noch da, sie bleiben Vorbilder und spielen, sofern anwesend, für Kinder eine große Rolle. Diesen Veränderungen wollen und müssen sich Männer gerade stark stellen.
BIERL: Welche Erwartungen werden denn an Väter von heute gerichtet?
THOMÄ: Es sind wahrscheinlich Erwartungen von außen und von innen. Aber die Tendenz geht dahin, die Aufgaben aufzuteilen, dass Väter häusliche Pflichten übernehmen und auch dazu bereit sind. In dem Zusammenhang habe ich mich immer über den Begriff der Doppelbelastung geärgert, weil es so klingt, als müssten Menschen neben der Bürde des Berufs auch noch die Bürde der Familie tragen. Dieses Schreckbild, dass jemand nach der Arbeit schnell noch einkaufen muss, dann die Kinder an einem hängen und das alles gar nicht zu schaffen ist. Ich frage mich, warum in dieser ganzen Diskussion nie von der Doppelerfüllung die Rede ist. Das würde ich Müttern wie Vätern, die berufstätig sind, nahelegen wollen.
Meine Frau und ich waren uns tatsächlich einig, dass jeder sich zur Hälfte um die Familie und den Beruf kümmert. Als meine Kinder klein waren, war ich meistens der einzige Vater auf dem Spielplatz. Und ich hatte immer das Gefühl: Es würde mir etwas fehlen, wenn ich jeden Morgen aus dem Haus müsste und meine Kinder nur beim Gute-Nacht-Kuss sähe. Genauso wenig konnte ich mir vorstellen, nur daheim zu sein. Ich hatte das Glück einer Doppelerfüllung. Die Erwartungen von Eltern gehen immer mehr dahin, in beiden Lebenssphären, Familie und Beruf, einen Platz zu haben. In der Arbeitswelt bildet sich das aber nur im Schneckentempo ab. Weiterhin gehen Väter nur ein paar Monate in Erziehungszeit. Da ist die Erwartung in der Wirtschaftswelt, dass Väter sich vorrangig dem Beruf widmen, weiterhin groß. Außerdem werden sie oft immer noch besser bezahlt.
BIERL: Wie verunsichern diese veränderten Väterbilder und -erwartungen die Männer?
THOMÄ: Es ist wahrscheinlich nicht besonders originell, wenn ich sage: Es gibt die Angst, ob man noch ein richtiger Mann ist, wenn man sich die Schürze umbindet. Selbst wenn Frauen sagen, dass sie das sexy finden. Mir persönlich hat nie eingeleuchtet, dass die Emanzipation der Frauen Männer zu Weicheiern macht. Ich glaube, dass es weiterhin unterschiedliche kulturelle Prägungen in den Geschlechterrollen und -auffassungen gibt. Männer sind also nicht wie Frauen und umgekehrt. Kindern kommt es zugute, wenn unterschiedliche Einflüsse in der Erziehung eine Rolle spielen.
Es gibt diesen Spruch vom Kind im Mann, der sehr stimmig ist. Bei Frauen sagt man das nicht. Damit kommt zum Ausdruck, dass etwas Verspieltes und Chaotisches im Mann ist. Er kann das Leben leichter von der Leine lassen und sich auf Entdeckungsreise begeben. Das ist in unserer Kultur etwas Männliches. Ich glaube, es nimmt die Verunsicherung, wenn Väter ihre Männlichkeit so wahrnehmen. Und wenn sie wissen: Es ist gut, diese Seite an ihre Söhne und Töchter weiterzugeben. Das setzt aber einen anwesenden Vater voraus, der seine Erfüllung nicht allein im Beruf sucht, sondern weiß, dass er sie als Mann auch in der Familie findet, eben kein Zaun-König ist.
BIERL: Warum ist es denn trotz vieler Verunsicherungen immer noch toll, heute Vater zu werden?
THOMÄ: Ich bin der Meinung, dass man sein Leben auskosten soll. Also entfalten und schmecken, was es anbietet. Und da uns diese Möglichkeit gegeben ist, Kinder zu haben, wäre es ratsam, das nicht einfach auszulassen. Ganz pathetisch gesprochen: Die Möglichkeit, Leben zu schenken und zu begleiten, ist die höchstmögliche Bejahung des Lebens. Sie ist bedingungslos, weil man einen Menschen in die Welt setzt, den man noch nicht kennt und nicht weiß, ob man mit ihm zurechtkommt. Das ist mit einer großen Bereitschaft zum Risiko verbunden, eine große und erfüllende Geste.