Orgelwerke von Johann Sebastian Bach
Um Mitternacht an der Orgel
Peter Kofler hat sämtliche Orgelwerke von Johann Sebastian Bach eingespielt. Dafür begab er sich auch nachts in die Kirche.

16 CDs, 19 Stunden Musik und ein Musiker: Über mehrere Etappen hat Peter Kofler das gesamte Orgelwerk von Johann Sebastian Bach aufgenommen. Etwa 220 Stücke hat der Komponist für dieses Instrument geschrieben. Nachdem er den letzten Ton angeschlagen hatte, spürte Peter Kofler „fast ein erhebendes Gefühl“. Schließlich hat sich die Arbeit über sechs Jahre hingezogen: „In dem Moment habe ich viel reflektiert, was in dieser Zeit alles war“.
Vor allem waren es viele Nächte, die sich der 45-Jährige um die Ohren geschlagen hat. Denn vor 20 Uhr waren die Mikrofone und das Mischpult in der Münchner Michaelskirche mitten in der Fußgängerzone nie eingeschaltet. Erst wenn die Geschäfte schließen, wird es dort leiser und der Lärm der Baumaschinen verstummt. Wenn an einem Abend trotzdem noch Fußballfans gesungen haben, war das nicht schlimm: „Wir haben immer zuerst mit voluminösen, lauten Stücken angefangen.“ Gegen die kommt selbst der Jubel angeheiterter Sportfreunde nicht an.
„Manchmal mussten wir Pause machen“
Erst gegen Mitternacht schlug der Organist die leisen Bach-Töne an: „Aber bei Regen oder Gewitter haben wir natürlich genau hingehört, ob das wahrzunehmen ist. Manchmal mussten wir eine oder zwei Stunden Pause machen.“ Kofler konnte das selbst kontrollieren. Genauso wie sein Tonmeister hat er während der Aufnahmen stets einen Kopfhörer getragen, um sein eigenes Spiel mitverfolgen zu können.
Technisch und musikalisch eingeübt hat er jedes Stück an einer kleinen Orgel in seinem eigenen Haus. Schon vorher, beim stummen Notenstudium, hörte er im Kopf, wie jede einzelne Komposition gestaltet sein sollte, welcher Ausdruck zur jeweiligen musikalischen Struktur passen könnte. Und auch wenn ihm das komplette Werk schon vertraut war – durch die Gesamtaufnahme hat er es noch einmal neu kennengelernt: „Es war eine Reise durch Bachs ganzes Leben.“ Schließlich probierte sich der Meister in seinen jungen, aber auch in seinen späten Jahren immer wieder neu aus, griff unterschiedliche Stile auf, „und so gut wie nie ist ein Stück einfach so dahingeschrieben“.
Wäre Bach von der Michaelsorgel begeistert gewesen?
Für diese Vielfalt in den Orgelwerken Bachs hat Kofler die richtigen Klangfarben, Rhythmen und Tempi gesucht. Dieses sogenannte Registrieren ist eine Kunst für sich. Auf die hat der Barock-Experte fast so viel Zeit verwendet wie für die Aufnahmen selbst. Dabei hat er kein historisches, sondern ein modernes Instrument genutzt – die Orgel in der Münchner Michaelskirche: „Von der wäre der Komponist begeistert gewesen.“ Sie umfasst 75 Register, also Klangfarben, die sich unterschiedlich miteinander kombinieren lassen.
Kofler ist davon überzeugt, dass Bachs Klangvorstellungen weit über die Möglichkeiten der damaligen Barockinstrumente hinausgingen. „Er hatte auch bestimmte Vorlieben, doch gerade die lassen sich an der Orgel in Sankt Michael variabel und charakteristisch darstellen.“ Wenn Kofler sich ins Notenmaterial vertiefte, hatte er dabei immer eines vor den Augen oder genauer vor den Ohren: „Es geht immer darum, wie hat Bach die Musik gemeint und wie hätte er sie selbst gern gehört.“
Immersive Mischung für dreidimensionalen Klang
Dafür sind in St. Michael die modernsten Aufnahme- und Wiedergabemöglichkeiten eingesetzt worden. Die Mikrofone waren auf einer Art Spinnennetz in gut 15 Metern Höhe angebracht, um den optimalen Raumklang einzufangen. Den mischte Toningenieur Florian Rauscher im Studio in zwei Versionen ab: „Einmal in Stereo, wie sie für CDs gebraucht wird, und einmal in einer sogenannten immersiven Mischung.“ Diese immersive Mischung in Dolby Atmos ist ein besonderes, dreidimensionales Erlebnis. Selbst mit einfachen Smartphone-Kopfhörern dringt die Musik von allen Seiten auf den Zuhörer ein wie in einem erstklassig ausgestatteten Kino: „Tatsächlich hören Sie den Klang von oben und unten, von vorne und hinten.“ So lässt sich beispielsweise eines der Seitenwerke der Orgel in St. Michael wahrnehmen und verorten: „Es kommt von rechts ans Ohr. Ein so großes Instrument und die einzelnen Stimmen so ausdifferenziert wahrzunehmen, ist schon ein Erlebnis.“
Diese Abmischung und deren Wiedergabe erfordern aber eine besondere Software. Deshalb ist sie nur über das Internet etwa auf Apple Music zu hören. Die CDs bieten dagegen den klassischen kompakten Sound. Auch der hat seine Reize. Aber egal in welcher Version: In jeder ist zu hören, was für eine große Interpretation aller Bach’schen Orgelwerke hier gelungen ist. Kofler hat sie nicht einfach chronologisch hintereinander weggespielt. Er hat die einzelnen Werke bewusst zusammen- und gegenübergestellt, sodass regelrechte Konzertprogramme entstanden sind. Er vermittelt damit eine Musik, die auch 300 Jahre nach ihrer Entstehung den Zuhörern eine Gänsehaut über den Rücken jagen kann. Besonders, wenn sie ein Musiker mit so viel Sachverstand und Einfühlungsvermögen wie Peter Kofler einspielt.