Kultur und Wissen
17.01.2025

Spanien

Auf dem höchsten Kirchturm der Welt

Noch steht der höchste Kirchturm der Welt in Ulm. Doch nur ein paar Kilometer weiter arbeitet ein Fassadenhersteller daran, dass der Titel noch dieses Jahr nach Barcelona geht: Ein riesiges begehbares Kreuz soll auf der höchsten Turmspitze der Sagrada Família montiert werden.

Ein Modell des 17 Meter hohen Kreuzes, das auf der Spitze des Hauptturms der Sagrada Família montiert werden soll. Ein Modell des 17 Meter hohen Kreuzes, das auf der Spitze des Hauptturms der Sagrada Família montiert werden soll. Foto: © imago/Europa Press

Funken und Späne fliegen in der Edelstahlhalle des Fassadenherstellers Gartner im bayerischen Gundelfingen. Rund 20 Mechaniker schweißen, flexen und schrauben an einem großen Puzzle aus Metall. Teamleiter Andre Willer zeigt an einem großformatigen Bauplan, wie aus den Einzelteilen in den kommenden Wochen die Spitze der Sagrada Família entsteht: ein 17 Meter hohes begehbares Kreuz für den Hauptturm.

„Durch eine Wendeltreppe im Fuß kommt man in den Mittelteil – den Nukleus – und von dort aus in die Arme des Kreuzes, die in die vier Himmelsrichtungen zeigen“, erklärt der 32-jährige Konstruktionsmechaniker. Zwei dieser Arme sind schon fertig, am dritten arbeiten Willers Kollegen gerade. Dazu ist das gewaltige Bauteil in einem Gestell eingespannt, in dem es sich entlang der Längsachse drehen lässt. „Wie ein großer Gockelspieß, damit wir an alle Seiten gut hinkommen“, erklärt Willer.


Anzeige

Schweißnähte für die Ewigkeit

Aktuell sehen die Kreuz-Elemente noch aus wie Ersatzteile des Eiffelturms. Sichtbar ist dieses Metallskelett später aber nicht mehr. Mit Spezialbeton ausgegossen, erhält das Kreuz eine Oberfläche aus hellglänzenden Fliesen. Innen wird es mit Naturstein ausgekleidet. Verwendet werden dazu dieselben Materialien aus der Region Katalonien wie für die restliche Kirche. Wie an dem ganzen Bauwerk gibt es auch am Kreuz so gut wie keine geraden Kanten oder Flächen – ganz im Stil des Modernisme, den Architekt Antoni Gaudí um die vorletzte Jahrhundertwende prägte.

„Da muss man sehr genau arbeiten“, weiß Michael Straubinger. Er schweißt gerade am geschwungenen, dreieckigen Rahmen eines der Fenster für den Kreuzarm, aus dem man künftig vom höchsten Kirchturm der Welt herabschauen kann. Wie ein Operateur sieht der 23-Jährige aus, wenn er hinter seiner Sicherheitsmaske verschwindet und mit präzisen Handgriffen die nächste Schweißnaht setzt. „Gerade wegen der statischen Anforderungen an das Grundgerüst des Kreuzes ist diese Arbeit anspruchsvoll.“

1882 begonnener Bau steht vor dem Abschluss

Mit spektakulären Bauprojekten kennen sie sich bei Gartner aus: Die Fassaden der Münchner BMW-Welt, der Hamburger Elbphilharmonie und der halben Skylines von Frankfurt und London stammen aus Gundelfingen. Anders als bei diesen Projekten konnte man bei der Sagrada Família aber nicht auf Originalbaupläne zurückgreifen. Gaudí starb 1926 nach einem Trambahnunfall, exakte Anweisungen für das Kreuz hinterließ er nicht. „Details wie die Begehbarkeit sind erst in den letzten Jahren von der Sagrada-Família-Stiftung, dem heutigen Bauherrn, entwickelt worden“, erklärt Gartner-Chef Jürgen Wax. Gemeinsam mit den Fachplanern habe der bayerische Fassadenhersteller dann die genaue Umsetzung geplant.

Insgesamt rund hundert Tonnen soll das fertige Kreuz wiegen, sein Durchmesser bei zwölf Metern liegen. Ein kleines Gebäude auf der Spitze eines sehr großen Gebäudes. Am Schluss wird allein das Kreuz fast so hoch sein wie die Münchner Bavaria. Zu den gewaltigen Dimensionen kommt die angestrebte langfristige Haltbarkeit. Üblicherweise arbeitet das oberschwäbische Unternehmen an Bürogebäuden und Flughäfen, bei denen die Fassaden nach ein paar Jahrzehnten wieder ausgetauscht werden. Das Kreuz hingegen soll über Jahrhunderte in luftiger Höhe Wind und Wetter standhalten. „Das war eine Herausforderung für die Planung und das Engineering“, betont Wax. Wie viel das genau gekostet hat, darüber haben der Bauherr und der Fassadenhersteller Stillschweigen vereinbart. Der Betrag liegt laut Wax „im unteren zweistelligen Millionenbereich“.

Ulmer Münster bald nur noch zweithöchste Kirche

Aufgrund seiner Größe wird das Kreuz in seinen sieben Einzelteilen nach Barcelona transportiert. Für den Frühsommer ist die Montage auf dem Hauptturm der Sagrada Família geplant, der Jesus Christus geweiht ist. Weil dem tiefreligiösen Architekten Gaudí wichtig war, mit seinem menschlichen Werk nicht Gottes Schöpfung zu überragen, legte er fest, dass der Turm einen halben Meter kleiner sein soll als der Stadtberg Barcelonas, der Montjuïc. Mit 172,5 Metern ist die Sagrada Família dann aber trotzdem die mit Abstand höchste Kirche der Welt.

Dass ausgerechnet ein Unternehmen aus Oberschwaben dem dann rund elf Meter kleineren Ulmer Münster den Weltrekord streitig macht, sieht Wax gelassen. Es sei ja kein Wettbewerb. Auch werde das oberschwäbische Wahrzeichen dadurch nicht weniger beeindruckend. „Aber Menschen aus der Region haben den neuen Rekord ermöglicht“, betont Wax. Und das bedeutet den Arbeitern in der Edelstahlhalle eine ganze Menge. „Jeder ist stolz, daran mitzuwirken“, sagt Teamleiter Willer. „Wenn’s fertig ist, ist das sicher eine Reise wert.“ Und außerdem eine Geschichte, die man noch seinen Enkeln erzählen kann: dass man der Sagrada Família, der „ewig unvollendeten“ Kathedrale Gaudís, nach 143 Jahren Bauzeit die Krone aufgesetzt hat.

Zum Nachhören

"MKR – das Magazin" Episode vom 16.1.2025, Kapitelmarke "Kirchturmkreuz für die Sagrada Familia" ab Min. 00:15



Korbinian Bauer
Artikel von Korbinian Bauer
Redakteur und Mitglied des Contentdesk
Recherchiert, schreibt und moderiert sozialpolitische und theologische Geschichten.