Kultur und Wissen
08.04.2025

Kosmischer Christus und Punkt Omega

Er war Jesuitentheologe, Naturwissenschaftler, mystischer Denker und „Pilger der Zukunft“: Am 10. April vor 70 Jahren starb Teilhard de Chardin, der Materielles und Mystisches auf spektakuläre Weise zusammendachte und kosmische Visionen entwarf.
    

Dieses Mosaik in der Markus-Basilika in Venedig zeigt Jesus Christus Pantokrator, den Herrn des Universums. Dieses Mosaik in der Markus-Basilika in Venedig zeigt Jesus Christus Pantokrator, den Herrn des Universums. Foto: © imago/imagebroker

„Gesegnet seist du, die du uns die Dimensionen Gottes offenbarst!“ schrieb er voller Begeisterung in seiner „Hymne an die Materie“. Der Jesuit und Naturwissenschaftler Teilhard de Chardin (1881–1955) wollte die Treue zu Gott und die Liebe zur Erde zu einer einzigen Leidenschaft versöhnen. Ihm, der sich einen „Pilger der Zukunft“ nannte und als einer der weitsichtigsten Denker der Neuzeit gilt, verdanken wir den seit Thomas von Aquin wohl faszinierendsten Versuch, christlichen Glauben und wissenschaftliche Welterkenntnis zu verbinden.

Doch die Hymne auf den Stoff der Schöpfung durfte zu Teilhards Lebzeiten ebenso wenig erscheinen wie eines seiner zahlreichen anderen Bücher. Gedruckt wurden nur seine paläontologischen Fachaufsätze. Als der Visionär die Bahnen traditioneller Theologie verließ, den Menschen das „bewussteste Molekül“ in der Geschichte des Universums nannte und Gott die „Seele der Evolution“, schickten ihn seine Ordensoberen buchstäblich in die Wüste. Ein Drittel seines Lebens war er rastlos in den asiatischen Steppen unterwegs – immer auf der Suche nach Spuren urzeitlichen Lebens.

Resümee seiner universalen Weltschau

Als der Vatikan ein halbes Jahrhundert nach Teilhards Tod 1981 zu einer vorsichtigen Rehabilitierung ansetzte und dem lange ungeliebten Sohn der Kirche „scharfsinnige Wahrnehmung“ und „unleugbaren religiösen Eifer“ bescheinigte, hatten die Glaubenswächter vor allem sein letztes großes Buch im Auge, „Der Mensch im Kosmos“ („Le Phénomène humain“), das er selbst als ein Resümee seiner universalen Weltschau betrachtete – mit der Einschränkung, man dürfe es „nicht lesen, als wäre es ein metaphysisches Werk, und noch weniger wie eine Art theologischer Abhandlung, sondern einzig und allein als naturwissenschaftliche Arbeit“.

Für Teilhard ist der Mensch ein wunderbares Rätsel. Einerseits „Achse und Spitze“ aller Entwicklung des Lebens und die jüngste und „farbenreichste“ seiner Schichten: Die schönste Entdeckung für das denkende Menschenwesen sei wohl die, „dass es nicht einsam in den Einöden des Weltalls verloren ist, sondern dass ein universeller Lebenswille in ihm zusammenströmt und sich in ihm vermenschlicht“. Andererseits gebe es keinen Anlass, ein Säugetier oder sogar den Menschen für fortgeschrittener und vollkommener zu halten als die Biene oder die Rose. In demütigem Staunen habe der Mensch einzusehen, dass er nur eine der vielen Formen des Lebens sei und noch dazu die zuletzt gekommene.
 

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„Das Leben hat ein Ziel“

In einem kühnen Entwurf zeichnet Teilhard – am Pariser Institut catholique hatte er einen Lehrstuhl für Geologie innegehabt – die Evolution der Materie, die allmähliche Verdichtung der Atome und Moleküle und schließlich die Entstehung des Lebens auf der noch jugendlichen Erde nach und kommt zum Ergebnis: Das Leben hat ein Ziel, die Entwicklung hat eine Richtung. „So viel Zusammenhang – und fügen wir hinzu: so viel Leichtigkeit, uneingeschränkte Folgerichtigkeit und beschwörende Kraft in diesem Zusammenhang – können nicht Wirkung des Zufalls sein.“

In dem verwirrenden Geflecht von Entwicklungssträngen, Experimenten und Kombinationen entdeckt Teilhard „eine Reifung, eine Häutung“, einen Trend hin zu Verdichtung und Einheit, zu Ordnung und Form, zur „Vergesellschaftung“. „Unter dem Mantel einer blühenden Erde“ vollziehe sich in der schlummernden Natur eine Differenzierung der Nervensubstanz, entfalte eine seelische Kraft immer stärkere Wirkung. Teilhard: „In ihrem tiefsten Innern besteht die lebende Welt aus Bewusstsein, das von Fleisch und Knochen umkleidet ist.“

Ichbewusstsein hat nur der Mensch

Und hier, am vorläufigen Ende des evolutiven Prozesses, nimmt der von Teilhard so illusionslos in die Gesamtentwicklung des Lebens eingebettete Mensch eben doch eine Sonderstellung ein: Das intelligente Tier weiß – aber es weiß nicht, dass es weiß. Ichbewusstsein hat nur der Mensch, und indem er dank dieses reflektierenden Bewusstseins immer mehr er selbst wird, entwickelt er Persönlichkeit. Für Teilhard ein revolutionärer Sprung: „Als sich der Instinkt eines Lebewesens zum ersten Mal im Spiegel seines Selbst erblickte, machte die ganze Welt einen Schritt vorwärts.“

Fertig sind die Schöpfung, die Evolution, der Mensch noch keineswegs. „Wir bilden zweifellos den aktivsten Teil des Universums“, Teilhard ermuntert schon wieder zur Neugier, „die Knospe, in der sich das Leben konzentriert und arbeitet, die Knospe, in der sich die Blüte aller Hoffnungen noch verbirgt.“ Nicht Mittelpunkt des Universums sei der Mensch, sondern, „was viel schöner ist“, die oberste Spitze der großen biologischen Synthese. Die Achse der Evolution verlaufe durch den Menschen hindurch, erreiche in ihm aber noch nicht ihren Endpunkt.

Der mystische Leib Christi ist noch nicht vollendet

Am Ende der Evolution wird die „Christifikation“ der Materie stehen; der Biogenese und der Noogenese (Bewusstseinsentwicklung) wird die „Christogenese“ folgen. Denn genauso wenig wie die Entfaltung der Materie und des Bewusstseins ist der mystische Leib Christi vollendet, und die ganze Evolution ist im Grunde nur der zielsichere Aufstieg zu dem Punkt, an dem Christus – wie Paulus sagt – „alles in allem“ sein wird.

Teilhards letztes und vielleicht gewichtigstes Buch zeigt einen Theologen, der viel eher ein Poet, ein mystischer Visionär war als ein Dogmatiker. In einer Tagebuchaufzeichnung wünschte er sich einmal einen Künstler, der einen „Christus Universalis“ malen könnte: „ein Herz, in dem sich die Welten bewegen und fortsetzen“. Den in sich ruhenden Schöpfer fern über der Welt ersetzt er – treu dem „Exodus“-Gott der hebräischen Bibel – durch einen vorwärts drängenden, den Menschen mit sich in eine bessere Welt ziehenden Gott. Am Ende der Evolution sieht er eine kosmische Harmonie.
 

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Entwicklung hin zum „Punkt Omega“

Weil Gott für ihn „Triebkraft, Sammelpunkt und Garant“ der Evolution bedeutet und diese Evolution einen Aufstieg zum Bewusstsein darstellt, wird die Spitze des Kegels der universalen Entwicklung, „der letzte Punkt, auf den alle Wirklichkeiten zusammenlaufen“, der „kosmische Christus“ sein. Unter seiner Anziehung nähern sich alle Dinge einander, um sich endlich in ihm zu versöhnen und zu vollenden. In der Sprache Teilhards: Wenn sich die „in den Dingen lautlos angewachsene Gegenwart Christi“ offenbart, wird der „Punkt Omega“ da sein.

Teilhard de Chardin hat sich nie als Chefideologe eines geschlossenen Weltsystems verstanden und sich kritische Korrekturen gewünscht. Widerspruch und bohrende Fragen erntete er keineswegs nur von furchtsamen Kirchenzensoren, sondern auch von Fachkollegen aus Naturwissenschaft und Theologie. Problematisch erscheint es, wenn er die Leidensgeschichte der Menschheit zum notwendigen Schatten der Evolution erklärt; jedes tastende Voranschreiten müsse eben mit Wunden und Misserfolgen bezahlt werden. Bestürzend ist seine Fehleinschätzung der Kernspaltung: Damit beginne die Menschheit, die Materie endgültig in den Griff zu bekommen, und Kriege werde es bei einem so verheerenden Übermaß an Zerstörungskräften nun wohl nicht mehr geben.

„Tribut an Tränen, Blut und Sünde“

Jedenfalls kämpft Teilhard selbst gegen den von Kritikern so bezeichneten „Teilhardismus“: einen oberflächlichen Optimismus, der vom Goldenen Zeitalter träumt. Er sagt dem Universum auf dem Weg der bewussten Konzentration noch heftige innere Konflikte voraus, einen „Tribut an Tränen, Blut und Sünde“. Nicht Optimisten seien nötig, sondern – Begeisterte. Am 10. April 1955, es war ein Ostersonntag, starb Teilhard de Chardin 73-jährig in New York, wo er in den letzten Jahren gelebt hatte.

Christian Feldmann