Lebenswenden
Jedem Aufbruch wohnt ein Zauber inne
Was ist das Geheimnis jenes Augenblicks, in dem Abenteuer beginnen und Schicksale sich wenden? Eine literarische Suche.

Schon die Bibel kennt viele bedeutende Aufbruchsgeschichten. Man denke nur an Abraham, der seine Heimat im Zweistromland verlässt. Obwohl dies sogar Teil der Gründungserzählung des Volkes Israel und ein Grundpfeiler der gesamten monotheistischen Religionsgeschichte ist, wird Abrahams Aufbruch nicht im Detail geschildert, und zwar weder äußerlich noch innerlich: „Der HERR sprach zu Abram: Geh fort aus deinem Land (...)! Da ging Abram, wie der HERR ihm gesagt hatte.“ Was ging dem künftigen Stammvater damals wohl durch den Kopf? Wie war es, ein letztes Mal zurückzublicken und dann in die Ungewissheit aufzubrechen?
Auch der Auszug der Israeliten aus Ägypten, wiederum ein epochales Ereignis, wird nur grob beschrieben: „Die Israeliten brachen von Ramses nach Sukkot auf. (...) Genau an jenem Tag zogen alle Scharen des HERRN aus dem Land Ägypten fort.“ Ebenso als Josef mit Maria und Jesus nach Ägypten fliehen muss („Da stand Josef auf und floh in der Nacht mit dem Kind und dessen Mutter nach Ägypten“) oder als der „verlorene Sohn“ seinen Vater verlässt („Nach wenigen Tagen packte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land“), bleibt in der Erzählung kein Raum für Rückblicke, Zweifel, Innehalten oder Hoffnungen im Moment des Aufbruchs.
Unbekümmert aufbrechen
Ähnliches begegnet auch in viel späterer Literatur. Als der märchenhafte „Hans im Glück“ nach siebenjährigem beruflichen Exil wieder den Heimweg antreten will – was könnte man da schreiben über Einsamkeit, Heimweh, Fremdsein und die schwierige Entscheidung, zu bleiben oder zu gehen! –, liest sich das wie ein Routinevorgang: „Herr, meine Zeit ist herum, nun wollte ich gerne wieder heim zu meiner Mutter, gebt mir meinen Lohn.“ Woraufhin er seinen Lohn erhält und ungerührt aufbricht: „Hans zog sein Tüchlein aus der Tasche, wickelte den Goldklumpen hinein, setzte ihn auf die Schulter und machte sich auf den Weg nach Haus.“
Ebenso unbekümmert – aber in die andere Richtung, in die Fremde – bricht Joseph von Eichendorffs „Taugenichts“ auf, der unvorbereitet und ziellos, aber ohne Zögern und fast schon provokant lässig losmarschiert: „Ich ging also in das Haus hinein und holte meine Geige (...), mein Vater gab mir noch einige Groschen Geld mit auf den Weg und so schlenderte ich durch das lange Dorf hinaus.“
Als ob die vorausgehenden Vorbereitungen, Überlegungen und Träume nicht der Rede wert seien, fällt auch Goethes „Italienische Reise“ gleich mit der Tür ins Haus und beginnt so: „Früh drei Uhr stahl ich mich aus Karlsbad, weil man mich sonst nicht fortgelassen hätte.“ Und auch Jonas Jonassons Erfolgroman „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ hält sich nicht mit Pläneschmieden auf, sondern verlegt den Showdown gleich in die ersten Zeilen: „Allan Karlsson war noch nie ein großer Grübler gewesen. Entsprechend war der Einfall auch noch ganz frisch, als der alte Mann sein Fenster im Erdgeschoss des Altersheims (...) öffnete und in die Rabatte kletterte.“
Mühsame Aufbrüche
Doch der Volksmund weiß: Aller Anfang ist schwer, und ein Aufbruch beileibe nicht immer so einfach, wie es die Literatur immer wieder vorgaukelt. Und selbst wenn der chinesische Philosoph Laotse natürlich Recht hat, wenn er sagt: „Auch eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem Schritt“, kann dieser erste Schritt verdammt schwer und von vielerlei existenziellen Gefühlen begleitet sein.
In seinem Buch „Der letzte Pilger“ beschreibt der 25-jährige Bernhard Pichler, wie er von Österreich aus aufbrach, um allein auf dem Jakobsweg nach Spanien zu wandern. Stundenlang rang er mit sich, bis er es um Mitternacht schließlich schaffte loszugehen: „Es war nicht die Gewissheit des kommenden Heimwehs, was mich quälte. Es war mehr die Angst vor der Ungewissheit; die Angst, von einem Leben, in dem man alles hatte, sich selbst in ein Abenteuer zu stoßen, in dem man nichts hatte. Das unbehagliche Gefühl wird mir auf ewig in Erinnerung bleiben. Es half nichts und ich startete in meine ungewisse nähere Zukunft mit einem Lächeln auf den Lippen eines verweinten Gesichts.“ Damit aber hatte er das vielleicht größte Hindernis der gesamten Reise überwunden und pilgerte in der Folge 4.600 Kilometer weit quer durch Europa bis nach Gibraltar.
Von mühsamen Aufbrüchen konnte auch der große Zentralasien-Forscher Sven Hedin ein Lied singen. Im Oktober 1905 reiste er von Stockholm mit dem Ziel ab, eine Erkundungsexpedition nach Tibet zu führen. Volle neun Monate dauerte es, bis er in Indien alles so weit organisiert hatte, dass der eigentliche Teil der Unternehmung beginnen konnte. In seinem Reisebericht „Transhimalaja“ erinnert er sich an den Moment, als sich am Tag des Abmarschs die riesige Karawane mit zwölfstündiger Verspätung endlich in Bewegung setzte: „Mit einem Gefühl, als gingen die Tore eines Gefängnisses vor mir auf, sah ich die Meinen die Straße hinabziehen – und die ganze Welt lag offen vor mir. (...) Jetzt aber war ich frei, außer dem Bereich dessen, was Regierung hieß; jetzt durfte ich selber regieren!“
Aufbrüche ins Ungewisse
Ein Aufbruch in die Freiheit gelang auch Kazimierz Piechowski, der 1942 gemeinsam mit drei Mithäftlingen aus dem Konzentrationslager Auschwitz entkam. Nach wochenlanger Planung sprachen die vier Schicksalsgenossen am entscheidenden Tag ein letztes Gebet, versicherten sich gegenseitig, sich im Falle des Scheiterns selbst zu erschießen, und standen dann vor einem Punkt ohne Wiederkehr. „Bis zum letzten Augenblick waren wir uns nicht sicher“, erinnerte sich Piechowski, „aber wir sagten uns: ‚Wir müssen das tun, wir müssen daran glauben!‘“
Man stelle sich die Sekunden vor, in denen sich die vier Männer noch einmal ernst in die Augen sahen und dann losgingen: Sekunden, in denen die Welt stillzustehen scheint und die Dramatik an diesem Wendepunkt zwischen Leben und Tod fast mit Händen zu greifen ist … Mit einer Serie von Lügen und Täuschungen passierten die Inhaftierten schließlich gewaltfrei die Lagertore, die Flucht glückte.
Auch die zeitgenössische globale Flüchtlingsbewegung bringt viele Geschichten von hoffnungsvollen Aufbrüchen ins Ungewisse hervor. Charakteristisch ist, dass Flüchtlinge oft nicht nur ein einziges Mal, sondern immer wieder aufbrechen müssen: von der Heimat ins Nachbarland, von dort zur nächsten Grenze, dann wieder ein Stück bis zur nächsten Polizeikontrolle ...
In einem Faltblatt der Bundeszentrale für politische Bildung berichtet der nach Deutschland geflüchtete 33-jährige Syrer Wisam minutiös von den vielen Stationen seiner Reise. Den vielleicht dramatischsten Moment erlebt er an der türkischen Ägäis-Küste, wo er auf einen Platz in einem Schlauchboot hofft, um nach Griechenland zu gelangen: „Jeden Abend warte ich mit den anderen auf grünes Licht für die Überfahrt. Ich bin aufgeregt. Ich habe Angst. Dann geht es los.“
Das Gefühl des Abbrechens schwingt mit
Immer wieder neu aufbrechen, von einem erreichten Ziel sofort neue Horizonte ins Auge fassen – dieses Phänomen ist auch vielen Jakobswegpilgern vertraut. In seinem Buch „Neuland unter den Sandalen“ erzählt der Schweizer Benediktinerpater Christoph Müller, wie er nach langer Pilgerreise mit dem Rad und zu Fuß in Santiago de Compostela ankommt. Doch an seinem monatelang anvisierten Ziel hält er es kaum aus, er muss wieder aufbrechen – weiter westwärts, nach Finisterre an der Atlantikküste, dem sprichwörtlichen „Ende der Welt“. Auch von dort treibt es ihn weiter, und er pilgert den gesamten Weg wieder zurück in seine Heimat.
Andere Pilger kehren im Laufe ihres Lebens mehrere Male auf den Jakobsweg zurück, spüren das Bedürfnis, immer wieder aufzubrechen und diesen Weg zu gehen, der zumindest auf Erden letztlich nie an ein Ende kommt. Man könnte sagen: Nicht nur der Weg, sondern der Aufbruch ist das Ziel, immer wieder …
Oft ist es einem Aufbrechenden von außen nicht anzusehen, welche Gefühlswelten er in sich trägt. Wie dem Protagonisten in Remco Camperts „Zu Fuß nach Paris“: „Er zieht gerade die Haustür hinter sich zu. Er sieht aus wie ein Mann, der auf dem Weg zur Arbeit ist, eine Besorgung oder einfach einen Gang um den Block macht. Man kann an nichts erkennen, dass hier ein Mann läuft, der gerade eine Fußreise nach Paris beginnt.“
Manchmal aber bricht sich die Wehmut Bahn, wie in Michael Endes „Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer“, als die beiden Helden ihre geliebte Insel Lummerland verlassen: „Über Jims schwarze Backe rollte eine dicke Träne. ‚Traurig?‘, fragte Lukas leise. Auch in seinen Augen blinkte es verdächtig. Jim zog den Inhalt seiner Nase geräuschvoll hoch, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und lächelte tapfer. ‚Is’ schon vorbei.‘“
Und immer wieder kommen nicht nur vor, sondern auch kurz nach dem Aufbruch noch einmal Zweifel auf – wie Schatten aus der Vergangenheit, die nach einem greifen. „In der Einsamkeit“, schreibt der englische Schriftsteller Laurie Lee, „spürte ich plötzlich, wie ich mich nach einem Hindernis, nach einer Hilfe sehnte, nach dem Geräusch eiliger Schritte hinter mir und den Stimmen der Meinen, die mich heimriefen.“ Wie eine verführerische Option blitzt da noch einmal der Gedanke auf, den soeben begonnenen Gang doch noch abzubrechen.
In der Freiheit bricht etwas auf
Sobald aber die letzten Bedenken zerstreut sind, liegt die Welt offen, und es wartet die Euphorie der Freiheit: „O, ich wollte in den Tag gehen, / Alle Sonnen, alle Glutspiele fassen“, schwärmt Else Lasker-Schüler in ihrem Gedicht „Vagabunden“, und David Le Breton notiert in seinem „Lob des Gehens“: „Den ersten Schritten wohnt die Leichtigkeit des Traums inne, der Mensch geht auf der Spur seiner Sehnsucht, den Kopf voller Bilder, frei, er kennt die Erschöpfung noch nicht, die ihn in einigen Stunden erwartet.“
Franz Kafka beschreibt in „Der plötzliche Spaziergang“, wie die Körperglieder „diese schon unerwartete Freiheit, die man ihnen verschafft hat, mit besonderer Beweglichkeit beantworten“, und die Protagonistin in Marlen Haushofers „Die Wand“ resümiert bei einem nächtlichen Spaziergang: „Die ganze dumpfe Bedrücktheit der letzten Zeit glitt von mir ab und ließ mich leicht und befreit zurück“.
Ob mit psychologischen Details oder nur als äußere Rahmenhandlung, ob mit philosophischer Deutung oder als alltägliche Nebensächlichkeit: Möglichkeiten, einen Aufbruch mit Worten zu beschreiben, gibt es unzählig viele. Was aber genau geschieht in jenem Moment, in dem der Wille den Körper in Bewegung setzt, bleibt geheimnisvoll und sehr persönlich. Vielleicht lässt sich das so andeuten: Wer wirklich aufbricht, in dem bricht etwas auf.
Man braucht dafür auch nicht gleich bis zum Ende der Welt zu gehen – manchmal genügt ein kleines bewusstes Ausbrechen aus Routinen, ein spontaner Spaziergang, ein anderer Blick auf die Dinge. „Lähmender Gewöhnung sich entraffen“, nannte Hermann Hesse das in seinem Gedicht „Stufen“. Dann kann er spürbar werden, der Zauber dieses Augenblicks. Und der Anbruch des lichten blauen Morgens – um mit Novalis zu enden – wird zum Erwachen in einer neuen seligen Welt.